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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser
Autoren: Inger Frimansson
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Doch das muss wohl bis morgen warten.
    Er stand im oberen Flur, der auch als Bibliothek diente. Er sah durchs Fenster hinaus über das Wasser, betrachtete das Auf und Ab der gekräuselten, im Licht schimmernden Wellen. Der Kahn lag nicht mehr am Steg.
    Justine, dachte er, während die Unruhe von ihm Besitz ergriff. Dann entdeckte er sie als kleinen Punkt irgendwo weit draußen, wie besessen über die Ruder gebeugt.

ES TAUCHTE IMMER MORGENS AUF, in der Frühe, wenn die Dämmerung den Weg für das Licht bereitete. Sie lag auf dem Rücken im Bett, schutzlos und wach, und dort oben an der Decke nahmen die Konturen langsam Form an. Sie wollte die Augen schließen, vermochte es aber nicht, wollte sich zur Seite drehen und die Bettdecke über den Körper ziehen, sich bedecken. Doch ihr Kopf lag steif und träge nach hinten in den Nacken gebeugt und war so schwer, dass die Augenlider förmlich nach oben gezwungen wurden und ein Blinzeln unmöglich machten. Sie spürte, wie sich der Schweiß in großen Flecken unter ihrer Brust ausbreitete und ihre Hände schwer wie Blei dalagen.
     
    Ein Gesicht, verletzt, denn dort, wo sich das eine Auge befunden hatte, war eine Kerbe, wie auf einem Blatt Papier, herausgeschnitten und zerknittert. Sie sah einen Mund, der zur Hälfte geöffnet war und durch den Wasser sickerte und rann.
    Dort, wo die Nase gesessen hatte, zeichneten sich Bisse von Fischen ab, doch das noch verbleibende Auge war unverletzt. Und genau das war es, was am schwersten auszuhalten war. Denn es betrachtete sie, unaufhörlich, und während sich das Gesicht bewegte und hin- und herwogte, blieb der fixierende Blick starr.
     
    Ich schlafe, ermahnte sie sich, ja, ich schlafe, es ist nichts anderes als ein Traum.
    Allerdings hat man die Augen geschlossen, wenn man schläft, und das hatte sie nicht, sie lag auf dem Rücken und starrte ins Dunkel. Wach und vollkommen klar. Und jetzt, mit dem Hereinsickern des Lichts, hatte das Gesicht wieder Form angenommen, so, wie sie es zu sehen pflegte, so, wie es immer auftauchte.
    Ihr Mund war verklebt, sie spürte einen Kloß im Hals, und ihre Zunge fühlte sich wie ein geschwollenes Tier an.
    »Hans Peter«, flüsterte sie, leise, ganz leise, denn er sollte sie nicht hören.

JILL ERWACHTE VOM REGEN. Noch immer spürte sie das Schaukeln des Schiffes in sich, sie hatte das Gefühl zu schweben. Still und ausgestreckt lag sie da, das Zimmer war hell, und obwohl sie die ganze Nacht unruhig geschlafen hatte, fühlte sie sich ausgeruht. Sie hatten in einem relativ neu erbauten Hotel ein kleines, sauberes Zimmer gebucht. Im Bad gab es eine Fußbodenheizung, und sie hielt sich gern länger dort auf, wenn sie von ihren Ausflügen zurückkamen.
    Sie hatten sich entschieden, für die einwöchige Reise ein Doppelzimmer zu nehmen, denn sie gingen wie Geschwister miteinander um. Etwas anderes stand nie zur Debatte. Tor war mit ihrer verschwundenen besten Freundin verheiratet. Sie kannte ihn seit einem Vierteljahrhundert.
    Er schlief noch, todmüde nach der gestrigen Seereise. Sie verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Er lag auf der Seite, den Rücken ihr zugewandt, und schnarchte, sodass sie mehrfach ihr Bein rüberstrecken und ihn anstoßen musste.
    Sie hatte ihn ziemlich lange bearbeiten müssen, um ihn zu überreden, seine eigenen vier Wände einmal zu verlassen und mit ihr mitzufahren. Er brauchte dringend einen Tapetenwechsel. Seit Berit verschwunden war, hatte er aufgehört zu arbeiten, und obgleich inzwischen so viele Jahre vergangen waren, wurde er immer wieder krankgeschrieben. Hätte er nicht etwas Geld von seinen Eltern geerbt, wer weiß, wie er sich finanziell über Wasser halten könnte.
    Er hatte etwas Manisches und Verzweifeltes an sich. Er gab einfach nicht auf, weigerte sich, es zu akzeptieren. Oftmals dachte Jill, dass es bedeutend leichter gewesen wäre, wenn Berit bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen oder an einer schweren Krankheit gestorben wäre. Dann hätte es eine Leiche gegeben, von der man Abschied nehmen und eines Tages die Trauerarbeit abschließen konnte.
     
    Seit sie erwachsen war, hatte sie sich gewünscht, einmal die Lofoten zu erleben. Oder noch lieber Spitzbergen, doch das war noch ein ganzes Stück teurer. Außerdem konnte es dort wegen der Eisbären gefährlich werden. Besucher, die auf die Insel kamen, mussten mit einem bewaffneten Führer unterwegs sein, was ihr nicht gefiel. Alle Geschöpfe hatten das Recht zu leben, und die wilden Tiere
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