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Der Schatten im Wasser

Der Schatten im Wasser

Titel: Der Schatten im Wasser
Autoren: Inger Frimansson
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wir die frische Luft genießen.« Sie hatte Decken geholt und breitete sie über ihre beiden Stühle aus, sodass sie sich darin einhüllen konnten. »Ist das okay so?«
    Die Russen kamen auch nach draußen. Einer von ihnen setzte einen silberfarbenen Flachmann an die Lippen. Er ging von Hand zu Hand. Jill kramte zwei Minipackungen Rosinen hervor.
    »Es ist gut, etwas im Magen zu haben«, sagte sie. »Und, wie gesagt, sich an Deck aufzuhalten.«
    Die erste halbe Stunde, während das Schiff zwischen den Inseln hindurchsteuerte, saß sie noch bei ihm. Auch die Möwen befanden sich noch in Reichweite. Sie beschrieben Bögen über ihren Köpfen und betrachteten sie lautlos und mit kalten Blicken. Weit entfernt zeichnete sich das Festland als Bergmassiv mit dunklen Schattierungen ab. Sie entfernten sich mehr und mehr von der Küste.
    Er spürte einen Anflug von Schwindel im Kopf.
    Mein Gott, Jill, dachte er. In dem Moment sagte sie, dass sie sich ein wenig die Beine vertreten wolle.
    Die Russen standen noch da, doch er stellte fest, dass sie langsam stiller wurden, Ihr Rufen und Schwatzen sich bald im Dröhnen der Motoren verlor. Die Frau, die ihm vorhin aufgefallen war, hatte ihr Kopftuch abgenommen. Ihr Gesicht war inzwischen matt und bleich. Der Wind blies ihr rotes Haar in Strähnen nach oben und enthüllte mit einem kräftigen Stoß, dass es am Ansatz ganz grau war. Es stand senkrecht nach oben, doch das schien ihr egal zu sein.
    Der Schwindel kam. Tor presste die Schultern gegen die Wand, nicht weit von der Reling, sodass er sich, falls nötig, schnell über die Brüstung beugen konnte. Und es wurde nötig. Teufel, wie nötig es wurde! Plötzlich wurde sein Zwerchfell von Krämpfen erschüttert, ein ums andere Mal, das dumpfe Grollen seines eigenen Elends. Ausgelaugt. Zitternd. Ich sterbe. Wie lange würde die Fahrt noch dauern? So ziemlich den ganzen Tag. Die Hölle hatte gerade erst begonnen.
    Was auch immer Jill über den Aufenthalt an Deck und die frische Luft gesagt hatte, die Kälte zwang ihn schließlich nach drinnen. Kraftlos und schwerfällig stand er auf und bewegte sich mühsam in Richtung Salon. Wurde wie ein Spielball hin- und hergeworfen, die Wellen waren inzwischen hoch, und er hatte jegliche Kontrolle über seine Gliedmaßen verloren. Er fand eine Bank und sackte in sich zusammen, die Stirn auf den Tisch gepresst. Der Gestank hier drinnen war abscheulich. Und dennoch fühlte er sich hier letztlich besser aufgehoben, denn er fror immer noch, er schlotterte regelrecht vor Kälte.
    »Möchtest du vielleicht etwas?«, fragte Jill. »Kann ich dir irgendwas holen?«
    Sie zog die Kapuze ihrer Jacke herunter, holte ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll.
    Nein. Er wollte nichts, gar nichts. Der bloße Gedanke daran, dass sie mit etwas Essbarem, etwa einem Wurstbrot, einer Apfelsine oder einem Glas abgestandenem Wasser kommen würde, ließ sich ihm die Magenwände zusammenziehen. Er musste die Tablette gegen Seekrankheit gleich als Erstes erbrochen haben. Jill hingegen schien völlig unbeeindruckt von dem starken Seegang. Sie war an den Umgang mit Schiffen gewöhnt, wies ihnen regelmäßig den Wasserweg und schleuste sie. Sie arbeitete zusammen mit Lotsen am Kanal in Södertälje. Jetzt wirkte sie etwas müde, aber zufrieden.
    Bald darauf ging sie erneut nach draußen. Er sah, wie das Schwanken des Schiffes sie förmlich über das Deck schleuderte, ohne dass sie sich dabei jedoch verletzte. Ein Besatzungsmann streckte helfend seine Arme aus, und seine Jacke verdeckte sie für eine Sekunde. Ihre lachenden weißen Zähne.

JILL VERSUCHTE, IHN wieder unter Leute zu bringen. Jill Kylén, die Freundin seiner Ehefrau Berit, schon seit Kindheitstagen. Sie kämpfte und mühte sich ab. Er fragte sich, wie lange sie wohl noch durchhalten würde. Als Berit vor mehr als sechs Jahren auf unerklärliche Weise verschwand, war sein gesamtes Dasein zusammengebrochen. Er hatte sich in einen Zombie verwandelt, einen geknickten und gebrochenen Menschen, der keine Kontrolle mehr über sein Leben hatte. Er war ein anderer geworden, einer, den nicht mal er selbst wiedererkannte. Er wusste, dass die Polizei aufgehört hatte zu suchen.
    In der ersten Zeit war er nahezu wie besessen herumgefahren, hatte gesucht und rekonstruiert. Das Wochenende, an dem es passierte, verbrachte er in ihrem gemeinsamen Sommerhaus auf Vätö. Berit hatte nicht mitkommen wollen, wie oft hatte er sich hinterher dafür verdammt, dass er
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