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Der sanfte Kuss des Todes

Titel: Der sanfte Kuss des Todes
Autoren: L Griffin
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Wochen zu vergessen versuchte, drang wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins.
    Ich will nach Hause.
    Aber sie wusste nicht, wo zu Hause war. Sie wusste nur, dass es nicht hier war.
    Sie sah zu den Sonnenstrahlen, die durch die Äste fielen. Sie waren gleißend hell und ließen sie an Gott denken. In letzter Zeit hatte sie viel an Gott gedacht und sich gefragt, ob ihr Dad in diesem Moment bei Ihm im Himmel war und auf sie heruntersah.
    Sie hatte ihre Großmutter einmal sagen hören, ihr Vater wäre ein Sünder, weil er zu viel trank und nie in die Kirche ging. Ihre Mom hatte widersprochen, aber Shelby wusste, dass ihre Großmutter recht hatte – zumindest, was den Teil mit dem Trinken und In-die-Kirche-Gehen betraf.
    Aber Shelby dachte, dass Gott über solche Dinge vielleicht anders dachte. Vielleicht verstand Er es, wenn jemand etwas Böses tat, so wie ihr Vater, wenn er trank, oder sie, wenn sie manchmal ihre Mutter anlog oder heimlich den
Computer benutzte, obwohl sie das nicht durfte. Shelby wusste, dass sie sich das alles selbst eingebrockt hatte, aber sie hoffte, dass Gott das vielleicht anders sah.
    Shelby schloss die Augen und hielt das Gesicht in die warme Sonne. Ihre Wangen waren kalt von den Tränen, die sich nicht zurückhalten ließen, und ihr Magen zog sich erneut zusammen.
    Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und stand auf. Sie musste etwas zu essen finden. Es war vier Tage her, dass sie das letzte Mal etwas gegessen hatte, und drei Tage, seit der Mann weggegangen war, er hatte gesagt, er würde Hamburger holen. Er war lange weggeblieben – länger als jemals zuvor -, und Shelby hatte gedacht, dass sie versuchen sollte, aus der Hütte zu kommen. Er hatte die Fenster zugenagelt und die Tür mit einem Schlüssel zugesperrt und ihr gesagt, sie solle bloß keinen Ärger machen, sonst würde sie es bereuen.
    Und er hatte sie schon einige Male dazu gebracht, dass sie etwas bereute, deshalb hatte sie ihm gehorcht. Aber als es Morgen wurde und er immer noch nicht wieder da war, hatte sie beschlossen, es trotzdem zu versuchen.
    Jetzt lief Shelby durch den Wald und hielt Ausschau nach Heidelbeeren oder Preiselbeeren, die sie und Colter immer in der Nähe von Grandmas Haus sammelten. Sie wollte nicht mehr an den Mann denken. Es war schrecklich, an seine hässlichen Hände zu denken und an seinen stinkenden Atem. Sie fand alles an ihm schrecklich.
    Ich will nach Hause.
    Sie schob den Gedanken wieder beiseite und ging weiter. Der Boden unter ihren Schuhen fühlte sich weich an, und ihre Füße waren so gefühllos, dass sie die Blasen schon fast nicht mehr spürte.

    Im Gebüsch raschelte es, und sie sah den Pfad entlang. Sie hatte Eichhörnchen und Erdhörnchen und einmal sogar ein Kaninchen gesehen, aber keinen anderen Menschen, seit sie die Hütte verlassen hatte. Es war ihr egal. Alles war besser, als dort in der Hütte zu sein, selbst allein auf Moos und Blättern zu schlafen.
    Shelbys Beine zitterten, aber sie ging tapfer weiter. Sie wollte nicht mehr stehen bleiben, bevor sie etwas zu essen gefunden hatte. Wenn sie gut achtgab, dann würde sie vielleicht wenigstens einen Bach finden, aus dem sie trinken konnte. Also ging sie weiter und lauschte. Der Wald lichtete sich, und der Boden war nicht mehr so weich. Etwas Weißes, Verzweigtes vor ihr ließ sie stehen bleiben.
    Ein Weißdorn. Großmutter hatte Weißdornbäume. Sie pflückte jedes Jahr die Früchte, um in ihrem großen Suppentopf Gelee daraus zu kochen. Shelby sah ihr immer gern dabei zu, wenn sie den roten Saft in die Marmeladengläser füllte.
    Sie ging zu dem Baum. Er war klein, neben den großen Tannen sah er wie ein Zwerg aus. Sie konnte keine Früchte entdecken – nur Blüten -, trotzdem umklammerte sie den Stamm mit beiden Händen und fing an, ihn zu schütteln. Sie schüttelte und schüttelte, und die Blüten fielen zu Boden wie Schneeflocken.
    »Was machst du da mit meinem Baum, Kleine?«
    Shelby wirbelte herum. Zuerst sah sie die Frau gar nicht. Ihr magerer brauner Körper und ihre weiten braunen Kleider verschmolzen mit den Baumstämmen.
    »Es dauert noch eine Weile, bis er Früchte trägt. Wenn du ihn schüttelst, verliert er nur die Blüten.«
    Shelby wich zurück, als die Frau auf sie zukam. Sie musterte Shelby unter ihrem Strohhut hervor.

    »Du siehst ja furchtbar aus, Kleine.«
    »Ich habe nur …« Shelby sah zu dem Baum. »Ich habe nur nach Beeren gesucht.«
    Die Frau kaute auf irgendetwas herum. Sie drehte sich zur Seite
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