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Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
Autoren: Gert Prokop
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augenblicklich gefrierende Wasser ihn erstarren ließ, wie die Kälte ihn einhüllte, in ihn drang, wie er nach und nach zu einem Eisblock wurde: die Finger, die Arme, die Beine, der Rumpf; die Jacke wurde ein steinhartes Dach, das ihn nicht schützen konnte. Sein Kopf fiel zur Seite, dann fror der Halsmuskel ein. Timothy starrte auf die Wand vor ihm. Das also, dachte er, ist das Ende.
    Warum hatte er das »Nebraska« verlassen. Warum hatte er sich nicht bei Coats versteckt. Verdammte Gefühlsduselei. Er hätte Coats mit einer Nachricht zum Rohrpostamt schicken sollen. Nein, schon vor Wochen nach UNTEN gehen. Was mußte er sich um den »Laurin« kümmern, um die Engel. Dann lebte Anne noch, und sie säßen jetzt unter einer Tanne. Anne würde die alten deutschen Weihnachtslieder singen: »O du fröhliche« ... Wenn es doch nur einen Gott gäbe. Herr im Himmel, laß mich hier rauskommen, und ich will – Unsinn. Zu spät, um noch an einen Gott zu glauben. Für alles zu spät. Alles verpfuscht. Sein ganzes Leben war verpfuscht gewesen, und so, wie er gelebt hatte, verreckte er jetzt: einsam und verlassen. Niemand würde um ihn trauern, niemand seiner gedenken, niemand an seinem Grab weinen. Er würde nicht einmal ein Grab bekommen. Keine Spur würde von ihm bleiben. Wozu auch. Er hinterließ niemanden. Die Erdenspur der Truckles starb mit ihm. Gut so. Simon hatte recht, nichts unerledigt zurücklassen. Wo mochte Simon jetzt stecken?
    Er durfte nicht ungerecht sein. Er hatte gute Freunde gehabt. Eigentlich doch ein erfülltes Leben, wie viele Wünsche auch unerfüllt geblieben waren. Timothy holte tief Luft. Staunte, daß er immer noch atmen konnte. Dachte erst jetzt wieder an die Maske. Er starb, wie er gelebt hatte: mit einer Maske. Persona, fiel ihm ein, so hieß doch die Maske der antiken Schauspieler. Seine Masken fielen jetzt von ihm ab. Person und Persona des Timothy Truckle vergingen. Vielleicht hatte er doch ein paar Spuren hinterlassen: Erinnerungen, Gedanken, Anstöße ... Man überlebt nur in den Hirnen der Menschen. Die Lebenden sprechen das Urteil über die Toten. Inger würde sich seiner erinnern, Maud, Paddington, die Engel... Schade, daß er nicht zum Engel wurde. Er hätte gerne auf einer Wolke gesessen und auf die Erde heruntergesehen, verfolgt, wie es hier weiterging.
    Ein Glück, daß er keine Schmerzen hatte. Nicht einmal die alten Wunden taten mehr weh. Wie lange lag er schon hier? Wie hatten sie ihn eigentlich entdeckt? Wer? Du bist mir ein schöner Detektiv, dachte er, den wichtigsten Fall deines Lebens wirst du nie aufklären.
    Die Wand vor ihm gleißte in überirdischem Licht. So starb einst Tristan: »Er kehrte sich zur Wand und sprach: Nicht länger kann ich mich ans Leben klammern.« Oh, diese Helligkeit. Er schwamm in einer Wolke von Licht. Daß sterben so leicht war.
    Da sagt man immer erleichtert: Er hat den Tod nicht gespürt. – Er war froh, daß er seinen Tod erleben durfte, daß er nicht im aseptischen Glasgefängnis einer Sterbeklinik verreckte, Schläuche in Nase und Mund, Darm und Penis, Infusioren in Arterien und Venen – um die letzten Minuten betrogen, nicht nur jeder Regung und jeden Willens beraubt, sondern auch des Bewußtseins; das Gehirn mit Drogen gelähmt, weil der Todesverlaufplan es so vorsah, vielleicht sogar gegen seinen Willen ans Leben gefesselt, buchstäblich: an Armen und Beinen gefesselt, um die kostbare Apparatur nicht zu beschädigen, von künstlicher Niere und Leber, von Herz- und Lungenmaschinen am Leben gehalten, weil erst jemand anders auf die Transplantation vorbereitet werden mußte. Nein, dachte Timothy, von mir bekommt ihr nichts. Meine Glieder würden auch niemandem passen, und mein altes Herz ist viel zu verbraucht, um noch in einer anderen Brust zu schlagen.
    Das Herz schlug kaum noch! Setzte ganz aus. Die Atmung. Noch drei Minuten, dachte Timothy, dann erlischt dein Gehirn. Die letzten Minuten. Oder die ersten. Die ersten Minuten der Ewigkeit. Er hatte das Gefühl, sich vom Boden zu erheben, in die Luft zu schweben, dann sah er sich, ein kleiner, verkrümmter, eisglitzernder Körper mit einem silbernen Helm, ein Wesen aus einer anderen Welt, gestrandet auf diesem Eisplaneten, sah sich da unten liegen und wußte: Timothy Truckle stirbt. Der Gedanke rief keine Angst in ihm hervor, nicht einmal Beunruhigung.
    Kamen da nicht Leute und legten ihn auf eine Bahre? Eine unübersehbare Menge füllte den Platz. Direkt neben der Bahre stand Anne, sie hielt
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