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Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
Autoren: Gert Prokop
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ausgelassene Gesellschaft trank ungeniert aus der Flasche, zuckte im Bebop-Rhythmus und grölte dann lauthals die unverwüstliche »White Christmas«. Schneewittchen sah eher wie eine Striptease-Tänzerin aus, und ihre sieben Zwerge waren ausgewachsene Burschen. Ja, dachte Timothy, in diesem Jahr haben wir die größten Zwerge der Welt. Am Civic Center schwenkte er schnell zum Rathausplatz ab; vorne tauchten zwei Trupps Polizisten auf.
    Die traurigen Überreste der Picasso-Statue 73 waren dicht umlagert, heute jedoch nur von Destsellers 74 , die vergebens nach Kunden Ausschau hielten, die ausgerechnet am Heiligen Abend auf dem Ideen-Flohmarkt ein Gehirn mieten oder eine Erfindung kaufen sollten. Timothy wurde von einem jungen Mann angesprochen, der versuchte, mit optimistischem Lachen seine abgerissene Erscheinung zu überspielen. Vielleicht hatte er tatsächlich in Harvard und Columbus studiert und einen Licht-Wärme-Wandler erfunden, eine Art Umkehrung des Infrarotbildwandlers, wenn Timothy die hastig herunter-gespulte Erklärung richtig verstand, aber der Bursche selbst fror erbärmlich in seinem dünnen, zerrissenen Hemd.
    »Hast du wenigstens einen Vierteldollar für mich?« fragte er dann.
    Timothy schüttelte den Kopf; es war bestimmt nicht gut, hier Bargeld zu zeigen, doch er bot ihm einen Schluck Whisky an.
    »Danke schön, Kumpel«, sagte der Bursche. »Frohes Fest!« Er zeigte wütend mit dem Daumen zum Himmel. »Für jeden Scheiß haben diese Schweine Geld, sogar für fliegende Weihnachtsmänner, unsereins kann ja ruhig verrecken.«
    Tatsächlich, da schwebte ein Weihnachtsmann in einem glitzernden Gleiter mit großen, bunten Schmetterlingsflügeln und silbernen Kufen über den Platz, segelte langsam in die Dearborn Street, und wenn Timothy es aus dieser Entfernung richtig ausmachte, saß neben ihm sogar ein Schlittenhund. Timothy sah fasziniert hinterher. Da drehte der fliegende Weihnachtsmann in einer harten Kurve um, beschleunigte, raste zurück, stoppte über dem Denkmal, sank; ein zweiter tauchte hinter dem Civic Center auf, aus der Madison Street kamen Polizeihelicopter, Scheinwerfer flammten auf, leuchteten den Platz taghell aus, Sirenen heulten aus der Ferne heran, und eine Stimme donnerte vom Himmel herab.
    »Halt, stehenbleiben! Polizei! Niemand bewegt sich!«
    Alles rannte wild durcheinander, stürzte in panischer Angst davon, Timothy vorneweg; er hatte den Motor des Rollstuhls auf äußerste Fahrt geschaltet, entkam dem Tumult, fingerte, während er mit der rechten Hand sein Gefährt durch die Straßen steuerte und in wilden Kurven Passanten auswich, die dem rasenden Invaliden kopfschüttelnd nachblickten, mit der linken Hand die Atemmaske aus der Tasche, stülpte sie über, riß den Wagen um eine Ecke, um eine zweite, sah, wie die Leute sich an den Hals griffen, Tücher hervorzerrten, sie vor den Mund preßten und versuchten, in ein Haus zu gelangen; vor ihm brach ein kleines Mädchen zuckend zusammen, wand sich schreiend auf der Straße, Timothy konnte ihm nur mit Müh und Not ausweichen – weiter, weiter! In der Ferne tauchte schon die Silhouette des Hauptpostamtes auf. Da hörte er eine Explosion über sich, und gleich darauf prasselte Regen hernieder: unterkühltes Wasser, das sich in Bruchteilen von Sekunden zu Eis verwandelte, alles mit einer spiegelglatten Schicht überzog; rundum fiel, stürzte, rutschte alles, Timothy verlor die Kontrolle über den Rollstuhl, schlitterte in rasender Geschwindigkeit über die Straße, stieß seitlich mit einem Mann zusammen, wurde herumgerissen, schoß auf eine Mauer zu, bekam die linke Hand auf den Boden, preßte verzweifelt die Fingerkuppen auf, konnte den Rollstuhl in eine leichte Kurve lenken; rammte dann doch mit dem linken Vorderrad einen Pfeiler – Timothy flog in hohem Bogen aus dem Stuhl, rutschte auf dem Rücken über die gleißende Fläche, das Gesicht dem Himmel zugewandt, ruderte verzweifelt mit Armen und Beinen, knallte mit der Schulter gegen eine Mauerecke und wurde zurückgeschleudert, stieß noch zweimal irgendwo an, dann trieb er taumelnd einer Wand entgegen.
    Über ihm tauchte eine neue Eisbombe auf, prallte gegen die Hauswand, platzte, ein Schwall Wasser stürzte herab, und er lag direkt darunter! Timothy versuchte, zur Seite zu rutschen, die Füße auszustrecken, um sich abzustoßen, riß mit letzter Kraft die Jacke über den Kopf, da klatschte das Wasser zu Boden und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Er spürte, wie das
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