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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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anderes Geheimnis. Ein Schauer lief Runa über den Rücken, als sie es erkannte. Wer auch immer den Talisman besaß, war beschützt vor allen bösen Mächten. Und dieser Schutz ermöglichte es dem Menschen, sich die Freiheit zu nehmen, die Wahrheit zu sehen. Solange man im Besitz des Talismans war, konnte man weder durch Angst noch durch äußeren Druck in eine Situation gebracht werden, in der man sich willenlos unterwarf. Der Talisman gab einem die Kraft, Dinge zu sehen, wie sie wirklich waren, die Motive anderer zu durchschauen und seine Entscheidungen ohne Angst vor negativen Mächten zu treffen.
    Der Talisman war noch viel mächtiger, als Runa es all die Jahre über angenommen hatte.
    Du musst die zwei Raben zusammenbringen, hatte Erdis ihr vor langer, langer Zeit einmal gesagt. Runa wusste nun, was die Freundin damit gemeint hatte.
    Eine Weile saß sie still und in sich gekehrt da, ein Lächeln auf den faltigen, aber immer noch feingeformten Lippen. Dann stand sie entschlossen auf und stimmte, begleitet von ihrer Trommel, ein letztes Mal ihr Medizinlied an.
    Sobald der letzte Ton verklungen war, trug Runa die Trommel, ihre Rasseln und ihren Medizinbeutel zu dem vorbereiteten Loch hinüber und legte sie hinein. Sie kniete nieder und bedeckte das Loch mit Erde, bis es sich nicht mehr von dem angrenzenden Boden unterschied. Dann ritzte sie mit einem Stock Symbole in die Erde. Es waren sieben Kreise, und jeder dieser Kreise trug ein gleichschenkliges Kreuz in sich. Sieben sogenannte Medizinräder . Sie kennzeichneten die Stelle, an der Runas weltliche Besitztümer begraben lagen. Runa hatte keine Verwendung mehr für sie.
    Runa war erschöpft, aber ihre Arbeit war noch nicht vollendet. Sie holte den Umhang aus schwarzen Rabenfedern hervor, legte ihn an und atmete tief ein. Ein letztes Mal sog sie die Schönheit der Wildnis und den würzigen Duft des Waldes in sich auf. Die Sonne senkte sich am Horizont und tauchte das Land und die alte Medizinfrau in ein warmes goldenes Licht. Runa prägte sich jede noch so kleine Einzelheit ein. Dann hallten ihre letzten Gebete über die scheinbar grenzenlosen Wälder.
    »Danke, ihr Geister, für eure Weisheit. Danke, dass ich meine Aufgabe erfüllen durfte. Danke für die Liebe und für den Reichtum meines Lebens. Gesegnet seien all die, die mir geholfen und mein Leben geteilt haben, im Großen wie im Kleinen … Danke, dass der Talisman in Sicherheit ist.«
    Ihren letzten Atemzug tat Runa ganz bewusst. Dann befahl sie ihrem Körper, so wie Xansu Shi es ihr vor langer Zeit gezeigt hatte, das Atmen einzustellen.
    In dem Augenblick, in dem die Seele Runas Körper verließ, erspähte Myra für den Bruchteil einer Sekunde einen großen schwarzen Vogel, der auf der Spitze des Berges seine Schwingen ausbreitete und in die untergehende Sonne flog. Der Platz, an dem Runa eben noch gesessen hatte, war leer …
    Ein Schauer lief Myra über den Rücken, dann drehte sich alles in ihrem Kopf, und sie musste sich festhalten. Irgendetwas begann, an ihr zu ziehen, begann, sie fortzuziehen, weiter und weiter – fort von ihrem Selbst.

K APITEL 33

Aufgelöst
    M yra blinzelte. Wo war sie?
    »Das war eine eindrucksvolle Demonstration«, sagte eine kalte Stimme neben ihr.
    Myra sah sich verwirrt um. Sie war zurück in dem provisorischen Lager auf der kleinen Anhöhe mitten in der Wildnis, an genau derselben Stelle, an der sie gestanden hatte, als sie in die Geisterwelt gereist war.
    »Auf die Minute genau!«, donnerte Morris. »Nur einen Moment länger, und ich hätte unsere Abmachung in die Tat umgesetzt.«
    Myra wandte sich langsam zu Morris um. Er hockte neben der erschöpften Heather, die Pistole schussbereit an ihre Schläfe gepresst.
    »Hast du unser kleines Problem gelöst?«
    Myra sah ihn fragend und ein wenig verwirrt an. Ihre Gedanken wirbelten noch immer durcheinander und schienen sich nicht beruhigen zu wollen.
    »Der Talisman!«, fuhr Morris sie an.
    Myra schüttelte den Kopf. Sie konnte die Geschehnisse noch immer nicht begreifen. War sie tatsächlich rechtzeitig zurückgekehrt? In Runas Welt war mehr als eine Woche vergangen, und diese Zeitspanne hätte wie üblich auch in Myras Jetzt verstreichen sollen. In Wirklichkeit aber schienen in der Gegenwart nur die von Morris bewilligten vierundzwanzig Stunden vergangen zu sein.
    Plötzlich weiteten sich Myras Augen. Sie erkannte, dass Runas Tod sie von dem zeitgleichen Ablauf befreit hatte. Myra konnte nun willentlich wählen, in
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