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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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Angehörige unseres Volkes, ohne eine Spur zu hinterlassen, und keiner der Weißen kümmert sich darum. Vor ein paar Tagen ist nun auch die Tochter von Susie Standing Bear auf dem Weg nach Fort Duffey spurlos verschwunden. Die Freundin, die mit ihr unterwegs war, sagt aus, dass sie kurz an einer Raststätte angehalten hätten. Susies Tochter hätte die Toilette aufgesucht. Danach wurde sie nie wiedergesehen. Die Polizei rührt keinen Finger. Susie hat den Rat der Ältesten um Hilfe gebeten. Wir sind erschüttert, doch die Zeichen sind eindeutig. Alle Ältesten haben sie gesehen … Uns bleibt nichts anderes übrig, als dem Vorbild unserer Ahnen zu folgen und in heiliger Zeremonie unsere Bitte um Rat und Beistand an den Großen Geist zu übergeben, den Schöpfer aller Dinge.«
    Er räusperte sich und fuhr dann fort: »Der Rat der Ältesten hat mich zum Sprecher für den heutigen Abend bestimmt. Und so hört den Beschluss und die Weisheit von allen Ältesten: Wir werden heute nicht nur den Großen Geist um seinen großzügigen Rat bitten, sondern auch all diejenigen, die diese Erde vor uns durchwandert haben.«
    Ein Raunen durchzog die Stille.
    Chad Blue Knife hörte, wie jemand neben ihm Ahnenzeremonie flüsterte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Diese Zeremonie war eine der ältesten und kraftvollsten. Sie hatte ihren Ursprung in längst vergangenen Zeiten, und ihr Ablauf war ein streng gehütetes Geheimnis. Nur wenige der Anwesenden hatten eine solche Zeremonie jemals erlebt.
    Chad wusste, dass die Ältesten nicht über ihre Entscheidung diskutieren würden. Sie hatten einen Beschluss gefasst, und dieser würde ausgeführt werden.
    Der Stamm würde im Reich der Toten um Beistand bitten …

    Die achtundzwanzigjährige Myra Morgenstern strich sich energisch über die Stirn. Sie durfte nicht einschlafen! Es war schon sehr spät, die Nacht brach herein, und sie hatte noch eine weite Strecke zu fahren, aber sie wollte Boulder Landing unbedingt heute noch erreichen. Zu lange war sie fort gewesen, zu heftig hatten die Ereignisse des vergangenen Tages sie erschüttert. In dieser für sie sehr schweren Zeit gab es für Myra nur einen Gedanken: Sie musste in die Berge zurückkehren, wo sie ihre glückliche Kindheit verbracht hatte, um sich Klarheit über ihre Situation und über ihre Gefühle zu verschaffen!
    Über zwei Jahre waren vergangen, seit Myra dem Dorf Boulder Landing im Westen von British Columbia, in das sie als Dreijährige mit ihren aus Deutschland eingewanderten Eltern gezogen war, zum letzten Mal einen Besuch abgestattet hatte. Vieles hatte sich seitdem verändert. Ihre Eltern waren aus Boulder Landing weggezogen. Myras Vater litt seit jeher an einem Lungenleiden, das er sich noch vor der Auswanderung nach Kanada als Arbeiter im Bergwerk in Goslar zugezogen hatte. Als er älter geworden war, hatte sich das Leiden verschlimmert, und in der Großstadt war die ärztliche Versorgung einfach besser. Schweren Herzens hatten Myras Eltern sich daher entschlossen, ihr kleines Holzhaus in der Wildnis der kanadischen Berge zu verkaufen und nach Vancouver zu ziehen.
    Myra hatte sich vorgenommen, in der Nähe von Boulder Landing ein paar ruhige Tage zu verbringen und beim Bergsteigen ihre Gedanken zu ordnen.
    Sie blickte angestrengt in die von den Scheinwerfern angestrahlte Nacht hinaus. Sogar die Straßen schienen anders zu sein, als sie es in Erinnerung hatte. Wieder rieb sie sich über die Stirn. Auf dem unbeleuchteten nächtlichen Highway zu fahren war anstrengender, als sie angenommen hatte. Vielleicht hätte sie doch lieber irgendwo einkehren und bis zum Morgen warten sollen. Sie kurbelte das Seitenfenster ihres alten Autos hinunter und ließ die kühle Abendluft herein. Sie atmete tief durch und lächelte. Heimatluft!
    Plötzlich tauchte ein imposantes Holzgebäude neben dem Highway auf. Zu dieser späten Stunde schien es noch gut besucht zu sein, denn der Parkplatz war voller Autos. Myra konnte sich nicht erinnern, das Gebäude jemals zuvor gesehen zu haben. Es machte einen sehr gepflegten Eindruck, und sie beschloss, anzuhalten und zu sehen, ob sie dort vielleicht einen starken schwarzen Tee bekommen könnte.
    Sie parkte ihren Wagen nahe den großen, massiven Eingangstoren, über denen Elk Creek First Nation Spiritual Centre geschrieben stand. Sie stieg aus, und durch die kühle Abendluft fühlte sie sich sofort munterer. Trotzdem musste sie ein Gähnen unterdrücken. Als sie die gläserne Eingangstür
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