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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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und die Hilfe seiner Ahnen und der Geistwesen, die in der Natur zu Hause waren.
    Die Zeremonie, der er am Vorabend beigewohnt hatte, hatte ihn tief berührt und gleichzeitig so sehr in Unruhe versetzt, dass er hoffte, in den ungezähmten Bergen seines Stammeslandes sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
    Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er die junge Frau, die nicht weit vor ihm den schmalen Pfad erklomm, erst in dem Augenblick wahrnahm, als sich das Geröll unter ihren Füßen löste und mit ohrenbetäubendem Getöse den Berg hinunterdonnerte, die Frau hilflos mittendrin.
    Chad sprang geistesgegenwärtig zur Seite, um sich selbst vor der Steinlawine zu retten. Doch ein kalter Schauer überkam ihm, als er sich vorstellte, was mit der Frau geschehen sein musste.
    Die Lawine hatte eine riesige Staubwolke ausgelöst. Kaum hatte sie sich gelegt, begann Chad, sich einen Weg zu der Stelle zu bahnen, wo er die Frau hatte verschwinden sehen. Er musste versuchen, ihr zu helfen!

    Myras Kopf schmerzte, und ihr Körper fühlte sich an, als sei er übersät von Prellungen. Vorsichtig tastete sie ihren Kopf ab und stellte erleichtert fest, dass sie nur eine große Beule an der Stirn hatte. Die Haut war aufgeplatzt, so dass Blut über ihr Gesicht lief, aber Myra wusste, dass Platzwunden am Kopf immer stark bluteten. Sie zog ein Stofftaschentuch aus ihrer Hosentasche und drückte es fest auf die Wunde. Es hätte schlimmer sein können. Sie musste versuchen, zum Parkplatz zurückzukehren. Ihr Handy funktionierte in den Bergen nicht, und sie hatte beim Aufstieg niemanden getroffen. Sie war verletzt und ganz auf sich allein gestellt.
    Langsam richtete sie ihren schmerzenden Körper auf. Koste es, was es wolle, sie musste den Parkplatz erreichen. Sie durfte nicht aufgeben.
    In diesem Moment fiel ihr Blick auf etwas, das sie alle Schmerzen vergessen ließ: Unweit der Stelle, an der sie sich befand, ragten zwei riesige massive Felssäulen aus dem Hang hervor. Wie ein steinernes Tor.
    Myra blinzelte. Unzählige Male war sie auf diesem Berg gewesen, und nie hatte sie diese phantastischen Säulen gesehen. Es musste sich um ein Trugbild handeln. Vielleicht war ihre Verletzung am Kopf doch schlimmer, als sie angenommen hatte, und sie halluzinierte.
    Und doch, die tiefschwarzen, an Basalt erinnernden Säulen waren eindeutig zu sehen! Die warmen Strahlen der Sonne ließen sie in den wunderbaren Farben des Regenbogens schimmern und noch mächtiger wirken. Geradezu majestätisch ragten sie in den blauen Himmel auf.
    Myra fiel auf, dass zwischen den Spitzen der Felssäulen keine Wolken am Himmel standen. Das reine Azurblau schien Myra anzulocken. Gleichzeitig wirkte der Anblick seltsam leblos. Kein Busch, kein Tier war im Umkreis der Säulen zu sehen.
    Myra fühlte sich auf unerklärliche Weise von den Säulen angezogen. In ihrem Kopf begann es zu kribbeln, und ihre Stimmung wandelte sich. Alles Negative der vergangenen Tage wich aus ihrem Bewusstsein. Gleichzeitig stellte sich ein befriedigendes Gefühl von Glück ein, wie Myra es sonst nur an Tagen verspürte, an denen alles glatt und besser als erwartet verlief. Sie hielt den Atem an. Hier geschah etwas Außergewöhnliches! Ein Hauch von Zauberei umhüllte das vor ihr liegende Bild.
    Myra spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief, als sie begriff, dass nicht nur Zauberei, sondern ein Gemisch aus Gefahr, Warnung und Vorahnung in der Luft lag. Energisch versuchte sie, das Gefühl zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht.
    Schließlich konnte sie ihrem Verlangen nicht länger widerstehen. Zögernd machte sie einen Schritt auf die Felssäulen zu. Erst jetzt bemerkte sie einen schmalen Pfad, der sich vor ihr öffnete und mitten durch die Säulen führte.
    Langsam folgte Myra diesem Pfad, und zum ersten Mal blickte sie auf die Landschaft zwischen den Felssäulen. Zu ihrem Erstaunen konnte sie keine scharfen Konturen ausmachen, sondern nur ein starkes Flimmern, wie das Flimmern der Luft über dem Boden an sehr heißen Tagen.
    Plötzlich setzte ein Rauschen in der Luft ein, und ein großer Vogel glitt an Myra vorbei über den Pfad und durch das Felsentor. Sie spürte den Luftstrom von seinem Flügelschlag auf ihrem Gesicht.
    Ohne zu zögern, folgte Myra dem Tier bis zu den Felsensäulen. Dort hielt sie einen Augenblick lang inne und bewunderte die raue Schönheit des Gesteins. Dann vermeinte sie, hinter dem merkwürdigen Flimmern der Luft die Umrisse des Vogels auszumachen.
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