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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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erreichte, entdeckte sie ihr Spiegelbild und sog entsetzt die Luft ein. So konnte sie nicht unter Leute gehen! Sie schob die Schultern zurück, richtete sich auf und strich sich das lange hellbraune Haar zurecht. Sie war nie eine klassische Schönheit gewesen, aber sie hatte eine schlanke Gestalt, ein hübsches ovales Gesicht und ein offenes, fröhliches Wesen. Entschlossen öffnete sie die große Eingangstür und betrat den hell erleuchteten Vorraum.
    Sie hatte gehofft, einen Getränkestand oder etwas Ähnliches vorzufinden, doch zu ihrer Enttäuschung war der große Vorraum leer. Verwundert blickte Myra sich um. Wo waren die Gäste? Es standen doch so viele Autos auf dem Parkplatz. Unentschlossen sah sie sich um. Ihr Blick blieb an den mit indianischen Schnitzereien reichverzierten Pfählen hängen, die die Dachkonstruktion zu tragen schienen. Sie entdeckte Lachse, Bären, Wölfe und viele andere Tiere. Wie schön und wie ausdrucksstark die Schnitzereien waren! Sie konnte den Blick kaum davon losreißen.
    Schließlich beschloss sie, die Toilette aufzusuchen, bevor sie weiterfuhr, und blickte sich suchend um. Sie entdeckte ein paar Türen, an denen jedoch keine Schilder angebracht waren. Vorsichtig drückte sie die Klinke der ersten Tür, einer massiven Zederntür, hinunter und öffnete sie einen kleinen Spalt.

    Chad, der an diesem Abend zu den Tänzern gehören würde, wartete gespannt auf seinen Einsatz. Er beobachtete, wie die beiden Hüter der Feuer ihre Position neben den lodernden Flammen einnahmen. Wie immer handelte es sich bei den Hütern um einen Mann und um eine Frau, die – wie die beiden Feuer, die in der Mitte des Zeremonienplatzes brannten – die gegensätzlichen Kräfte aller Dinge verkörperten. Beide waren in einen Umhang aus weichen Zedernrindenfasern gehüllt, der ihnen fast bis zu den Knien reichte. Ihre langen schwarzen Haare trugen sie offen. Als Hüter der Feuer war es ihre Aufgabe, während der Zeremonie die Feuer zu schüren und ihnen ausgewählte Kräuter beizugeben. So wurde der Gegensatz der Feuer, nämlich weiblich und männlich, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod, nicht nur dem unmittelbaren Betrachter durch die unterschiedlichen Farben, die die Kräuter den Flammen verliehen, erkenntlich gemacht, sondern auch den Geistwesen, denn die unterschiedlichen Kräuter verliehen dem Rauch der Feuer gegensätzliche Aromen, süß und herb. Der Rauch der Feuer würde den Ältesten helfen, die Geistwesen zu erreichen und ihre Bitte vorzutragen.
    Die wohlriechenden Kräuter zeigten den Geistwesen nicht nur die Wichtigkeit der Zeremonie an, sie sorgten auch dafür, dass die richtigen Geistwesen angesprochen wurden. Denn die Anwesenheit von Geistwesen machte sich oft durch Gerüche bemerkbar, nicht durch sichtbare Formen. Unangenehme Gerüche wurden mit negativen Geistwesen in Verbindung gebracht, wohlriechende Gerüche mit positiven. Bei Zeremonien wiederum wurden die Aromen der Kräuter dazu benutzt, mit den richtigen Geistwesen in Verbindung zu treten.
    Chad warf einen Blick über die aus dicken Zedernplanken gezimmerten Sitzbänke, wo die übrigen Stammesmitglieder ihre Plätze eingenommen hatten. Jedes Stammesmitglied durfte der heutigen Zeremonie als Zeuge beiwohnen, und so waren viele Familien anwesend. Zeugen spielten bei den Stammeszeremonien eine wichtige Rolle. Denn was vor Zeugen gesagt und getan wurde, war bindend, dem durfte nicht zuwidergehandelt werden. Es waren jedoch nur die Ältesten und einige auserwählte Tänzer, die auf dem Zeremonienplatz an der Zeremonie selbst teilnehmen würden.
    Die obersten Tribünenreihen waren in Dunkelheit gehüllt. Nur die vorderen Reihen wurden vom Schein der Feuer erleuchtet. Ein gleichmäßiges Stampfen von Hunderten Füßen setzte ein, begleitet von einem lauten Klicken, das vom Aufeinanderschlagen unzähliger kleiner geschnitzter Zedernpaddeln herrührte, die jeder Zuschauer in der Hand hielt.
    In der Mitte des Zeremonienplatzes stimmten die Ältesten ihren feierlichen Gesang an und begannen, in rhythmischem Takt auf ihre Trommeln aus Zedernholz und Elchhäuten zu schlagen. Joseph Rock Horse, der die heutige Zeremonie leitete, hielt statt einer Trommel ein großes Paddel in den Händen. Es war ein wichtiger Bestandteil der Zeremonie, denn laut Stammesglauben trat ein Mensch seine letzte Reise in das Reich der Toten in einem Kanu an, in dem sich seine engsten Freunde befanden. Das Paddel stand stellvertretend für diese letzte Reise und
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