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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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spärlich mit Bäumen bewachsen. Runas Herz begann, schneller zu schlagen, als sie spürte, dass sie am Ziel ihrer Wanderung angekommen war. Sie hielt inne und ließ den Anblick auf sich wirken. Dann folgte sie ihrer inneren Stimme und begann den beschwerlichen Aufstieg.
    Es war ein gefährlicher Weg, der von Runa viel Aufmerksamkeit und Kraft verlangte, denn der Boden bestand aus nichts anderem als bröckeligen Felsen. Runa benötigte den ganzen restlichen Tag, um die Felswand zu erklimmen.
    Die Sonne ging schon unter, als Runa, müde und erschöpft, die Spitze des Berghanges erreichte. Sie wandte sich dem Sonnenuntergang zu. Eine warme, sanfte Brise strich ihr über das faltendurchzogene Gesicht und den gealterten Körper. Mit einem Stich im Herzen und einem Lächeln auf den Lippen genoss sie den atemberaubenden Ausblick, der sich vor ihr ausbreitete.
    Die abgeflachte Spitze des Felsmassivs erhob sich mehr als tausend Meter hoch über der Wildnis, die sie in den vergangenen Tagen durchschritten hatte. Zedern, Fichten und Kiefern bedeckten das Land schier endlos in alle Himmelsrichtungen. Weit dahinter glitzerte das Wasser eines Flusses in der untergehenden Sonne. Runa erspähte andere Berge, die sich, wenn auch nicht so hoch wie der, auf dem sie stand, aber immerhin von stattlicher Größe, gleich einer Kette Richtung Osten erstreckten. Zarte Wolken zogen am Horizont entlang und leuchteten in den warmen rosa- und orangefarbenen Tönen, die den Himmel am Abend manchmal so unvergesslich schön machten.
    Runas Herz wusste, dass dies der Ort war, den sie gesucht hatte. Sie versuchte, sich jede Einzelheit, jede Besonderheit der Umgebung einzuprägen. Sie wusste nicht, warum. Normalerweise nahm sie Dinge immer als ein Ganzes auf, als ein lebendiges Wesen mit vielen einzigartigen Besonderheiten – etwa so, als betrachte sie ein Kind: hier eine Nase wie eine Erhebung, dort ein Auge wie eine Vertiefung und dort langes Haar wie ein Wald –, und es bestand keine Notwendigkeit, sich auf Einzelheiten zu beschränken, denn alles zusammen ergab für sie ein unverwechselbares Bild.
    Schließlich hatte sie genug gesehen. Sie legte das Bündel mit dem Umhang aus schwarzen Rabenfedern ab, nahm einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel, der eine leichte kalte Abendmahlzeit enthielt, und ließ sich auf dem felsigen Boden nieder.
    Als die ersten Sterne am Himmel erschienen, legte sie sich zur Ruhe – im Einklang mit sich selbst und mit der Natur, die sie umgab.
    Am nächsten Morgen bereitete Runa sich auf die wichtigste Zeremonie ihres Lebens vor. Sie wusste, seit sie an jenem Morgen vor zehn Tagen in ihrer Zedernhütte neben Te’culum aufgewacht war, dass die Ahnen sie sehr bald zu sich rufen würden, und sie musste Vorbereitungen dafür treffen.
    Die heiligen Objekte eines Medizinmannes oder einer Medizinfrau, die zu zeremoniellen Zwecken benutzt wurden, wie zum Beispiel Medizinbeutel, Trommel und Rasseln, aber auch Runas magischer Umhang aus schwarzen Rabenfedern und der Talisman, der ihr vor so langer Zeit in ihrem Heimatdorf von Halvar anvertraut worden war, waren sehr mächtig und trugen die Fähigkeiten des Medizinmannes oder der Medizinfrau in sich. Sie durften nicht in die Hände eines Unwissenden gelangen. Deshalb wurden sie nach alter Tradition zusammen mit dem Medizinmann oder der Medizinfrau begraben oder aber verbrannt, wenn diese sich auf ihre Reise zu den Ahnen begaben.
    Runa wusste dies nur allzu gut, und sie wollte niemanden mit dieser schweren Aufgabe belasten. Daher hatte sie sich, wie schon Ay’mut vor ihr, allein auf den Weg zu ihrer letzten Ruhestätte gemacht.
    An diesem ihrem letzten Morgen war Runa mit der aufgehenden Sonne aufgestanden und hatte den Geistern für den neuen Tag gedankt.
    Mit Hilfe eines Hirschgeweihs grub sie als Nächstes ein Loch zwischen den Wurzeln einer großen Zeder, groß genug für ihre Trommel, ihre Rasseln und ihren Medizinbeutel.
    Es dauerte eine Weile, bis sie mit ihrer Arbeit zufrieden war.
    Nun musste sie den Talisman vorbereiten. Er war sehr mächtig, und Runa mochte nicht daran denken, was geschehen würde, sollte er in falsche Hände geraten. Der Talisman musste für immer mit ihr verbunden sein, und er durfte für niemanden sonst seine Kräfte entfalten – außer ihre Seele ließ es zu. Runa ließ sich auf dem Boden nieder, nahm den Talisman vorsichtig aus seinem Lederbeutel und legte ihn vor sich. Dann ergriff sie ihre Trommel und stimmte ein Lied an. Es war ein
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