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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Autoren: Sanna Seven Deers
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Medizinlied, das ihr vor langer Zeit während einer spirituellen Suche von den Geistern anvertraut worden war und dessen Melodie und Worte nur sie allein kannte. Es war ein sehr langes Lied, aber Runa erinnerte sich mühelos an jeden Ton und an jedes Wort.
    Der Gesang, begleitet von den rhythmischen Schlägen ihrer Trommel, half Runa, einen Bewusstseinszustand zu erlangen, der es ihr ermöglichte, Kontakt mit den Geistwesen aufzunehmen.
    Runas klare Stimme und die steten Trommelschläge hallten weit hinaus durch die Stille des frühen Morgens und brachten so viele Geistwesen der unterschiedlichsten Art herbei, dass es unmöglich gewesen wäre, sie zu zählen. Sie kamen aus allen Richtungen über die Bergspitzen und Täler zu ihr, wie eine lebendige Welle. An Runas letztem Morgen fanden sich die Geistwesen so zahlreich ein wie die Sterne an einem klaren dunklen Nachthimmel. Lautlos bewegten sie sich gegen den Uhrzeigersinn um die singende Schamanin herum.
    Als der Gesang und die Trommelschläge schließlich verstummten, verabschiedeten sich die Geistwesen wieder.
    Wortlos legte Runa die Trommel nieder, nahm den Talisman behutsam auf und segnete ihn.
    Sie saß noch eine Weile still da, die frühe Morgensonne im Gesicht, betrachtete den Talisman und flüsterte Dankgebete an die Geistwesen. Dann stand sie auf und trug den Talisman zu einer Felswand, die zwischen mehreren kleinwüchsigen Kiefern hervorragte.
    Zielstrebig schritt Runa auf einen Spalt in der Felswand zu. Auf der anderen Seite öffnete sich eine kleine Höhle, in der es feucht und kühl war. Eine Fledermaus flatterte aufgebracht an ihrem Kopf vorbei und zum Höhleneingang hinaus. Runa schritt tiefer in die Höhle hinein, bis das schwache Licht, das durch den Spalt fiel, nicht mehr ausreichte, um etwas zu erkennen. Dort berührte sie mit ihrer alten, runzeligen Hand behutsam den rauen, feuchten Fels der Höhlenwand und wartete geduldig.
    Plötzlich fühlte Runa, wie der Fels unter ihrer Hand zuerst warm und dann weich wurde, wie weicher Ton. Darauf hatte sie gewartet. Sie hob den Talisman zu der Stelle hoch, an der ihre Hand eben noch geruht hatte, und drückte ihn so weit in den weichen Fels hinein, bis er vollständig darin versunken war. Dann zog sie ihre Hand zurück und legte sie ein zweites Mal behutsam auf die Felswand. Runa spürte, wie der Fels sich allmählich wieder festigte. Sie wartete so lange, bis nur noch die Oberfläche weich war. Dann drückte sie ihre Hand leicht in den Felsen. Wenig später war die Oberfläche wieder ganz hart. Runas Handabdruck befand sich nun für alle Zeiten in der Höhlenwand.
    Zufrieden lächelnd verließ sie die Höhle und kehrte zu dem Platz zurück, wo sie das Loch für ihre Instrumente vorbereitet hatte. Erschöpft ließ sie sich nieder. Die Zeremonie verlangte ihrem alten Körper viel Kraft ab.
    Runas wacher Blick schweifte über die wilde Natur, und ihr Herz füllte sich mit Freude und Dankbarkeit. Sie hatte es geschafft. Sie war dem Wunsch der Geister gefolgt und hatte die Botschaft überbracht – genau so, wie es ihr auferlegt worden war. Auf ihrem Weg hatte sie die Segnungen und Gaben, die ihr von den Schamanen und den Geistwesen angeboten worden waren, angenommen und war schließlich selbst eine Medizinfrau geworden. Es war nicht immer einfach gewesen, aber sie durfte auf ein reiches Leben voller Liebe zurückblicken.
    Erst in diesem Augenblick erkannte Runa, dass die Reise, die sie vor so langer Zeit als junge Frau im Dorf ihrer Ahnen begonnen hatte, nie wirklich zu Ende gewesen war. Bis zu diesem Tag.
    Der Talisman war mit ihr in Fähigkeiten und Kräften gewachsen. Nun war er in Sicherheit. Runa spürte einen leichten Stich in ihrem Herzen. Es war erst das zweite Mal, seit sie ihn von Halvar überreicht bekommen hatte, dass sie den Talisman nicht bei sich hatte, und sie vermisste ihn. Er war ein Teil von ihr.
    In diesem Moment der Trennung erkannte sie die ganze Bedeutung des Talismans. Die zwei Raben standen nicht nur für das Geben und Nehmen, für Schatten und Licht, für Leben und Tod. Sie hatte sich in ihrem Leben stets bemüht, diese Harmonie zu erhalten. Ohne sie wäre ein Leben auf Erden nicht denkbar. Man konnte nicht nur nehmen, sondern musste auch geben, viel mehr, als man erhielt – und zwar ohne etwas dafür zurückzuverlangen. Jedes Ungleichgewicht, jede Störung würde ins Unglück führen – für Menschen, Tiere, Pflanzen und Geistwesen zugleich.
    Aber der Talisman hütete noch ein
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