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Der Ruf des Kulanjango

Der Ruf des Kulanjango

Titel: Der Ruf des Kulanjango
Autoren: Gill Lewis
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Vielleicht fliegt der Vogelgeist auch zu dir.«

Kapitel 44
    Am nächsten Morgen wurde ich in aller Frühe wach, stand auf und spähte aus dem Fenster. Über Nacht hatte uns der Nebel verschluckt. Außer einem dumpfen Weiß konnte man nichts sehen. Am Hof war es eigentümlich still. Ich schlüpfte in Pullover und Jeans und tapste in die Küche.
    Mum machte das Frühstück und Dad saß auf einem Stuhl und hielt den Kopf in den Händen.
    »Ich kann nicht mehr feiern wie früher«, jammerte er.
    Mum zwinkerte mir zu und stellte Dad einen Teller mit Würstchen und Kartoffelpuffer vor die Nase. »Iss das erst mal«, sagte sie.
    Draußen auf dem Hof waren Schritte zu hören. Graham stapfte herein.
    »Schsch«, flüsterte Mum. »Jeneba und Mama Binta schlafen noch.«
    Graham setzte sich neben Dad. »In diesem Nebel kannst du nicht mal die Hand vor den Augen sehen.« Er langte über den Tisch und nahm sich ein Würstchen von Dads Teller. »Gutes Essen sollte man nicht verderben lassen«,sagte er und stopfte sich das Würstchen in den Mund.
    »Da sind sie ja«, bemerkte Mum.
    Ich drehte mich um und sah Mama Binta, wie sie Jeneba durch die Tür lotste. Mum rückte einen Stuhl mit einem weichen Kissen zurecht und half Jeneba, sich zu setzen.
    Jeneba sah aus, als hätte sie zehn Pullover angezogen, eine Fleecejacke, dicke Hosen, wollene Wanderstrümpfe und eine alte blaue Pudelmütze. »Und, Callum«, sagte sie, »glaubst du, ich bin bereit fürs Gebirge?«
    Ich lachte. »Sieht aus, als ob du ins Basislager am Mount Everest willst.«
    Mama Binta zog sich den Schal fester um die Schultern und lehnte sich an den warmen Küchenherd. »Ihr bringt mich auf keinen einzigen Berg«, schlotterte sie. »Da draußen, das ist, als ob man in einer großen Tiefkühltruhe lebt.«
    »Es hat keinen Sinn, vor dem Mittagessen zum See zu gehen«, sagte Dad. »Erst dann dürfte sich der Nebel auflösen.«
    »Aber Dad …«, wandte ich ein. »Wir haben nicht viel Zeit. Robs Mum und Dad nehmen Jeneba am Nachmittag mit zu den Wollmühlen, und überhaupt …« Ich wurde vom dumpfen Brummen eines Wagens unterbrochen, der auf den Hof fuhr. Seine Scheinwerfer waren vom Nebel umhüllt. »… Hamish ist da.«
    Hamish klopfte an die Tür und kam in die Küche. »Morgen, zusammen«, grinste er. Er wandte sich an Jenebaund mich. »Seid ihr bereit, einen Blick auf den Adlerhorst zu werfen?«
    Wir nickten beide.
    »Dann husch, husch, Mädchen«, sagte Hamish. Er streckte Jeneba die Hand hin, »auf in den Landrover.«
    »Aber sie haben noch nicht gefrühstückt«, protestierte Mum.
    »Wir frühstücken später«, rief ich. »Ich muss noch was holen.« Ich eilte in mein Zimmer und suchte das Fernglas, das ich seit vergangenem Jahr nicht mehr benutzt hatte. Ich holte es vom Kleiderschrank und ging zurück in die Küche.
    »Damit wirst du nicht viel sehen«, meinte Dad, als ich den Raum verließ.
    Draußen drängte sich mir der Nebel entgegen, feucht und schwer.
    Jeneba saß bereits auf dem Vordersitz. Ich öffnete die Tür und setzte mich neben sie, die Krücken zwischen uns. Der Motor sprang an und Hamish kutschierte uns aus dem Hof auf den Weideweg hoch zum See. Schafe tauchten aus dem Nebel auf und starrten uns an, während wir vorüberfuhren. Hamish schaltete das Fernlicht an, aber die Strahlen prallten an der Nebelwand zurück. Der Weg machte einen Bogen um den Berg und stieg dann steil nach oben.
    »Ich glaube, wir haben den Weg zum See verpasst«, sagte ich.
    Hamish spähte in den Nebel. »Bist du sicher?« Ich schauterundum, aber da war nichts als Weiß. Keinerlei Orientierungspunkte.
    »Ich glaub schon«, sagte ich. »Wir hätten nicht so steil hochfahren müssen.«
    Der Landrover rutschte auf dem Matschboden seitlich ab. »Ich kann nicht umkehren«, murmelte Hamish. »Wir fahren weiter. Wenn ich jetzt anhalte, könnten wir stecken bleiben.«
    Er fuhr langsam weiter und wir holperten über Stock und Stein. Jeneba hielt sich am Armaturenbrett fest, um im Gleichgewicht zu bleiben. Unter meinem Seitenfenster versank der Wegrand im wabernden Nebel.
    »Wenigstens kann ich jetzt erzählen, dass ich in den Bergen war«, sagte Jeneba, »selbst wenn ich sie nicht sehen kann.«
    »Vor uns klart’s ein bisschen auf«, stellte Hamish fest.
    Der Boden war jetzt flacher und mit struppigem Gras bedeckt. Überall um uns herum wurde es heller und lichter. Die Farben sickerten wieder in die Welt. Die Konturen einer orangefarbenen Sonne durchdrangen den Nebel über uns.
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