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Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)

Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)

Titel: Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Autoren: Susan Squires
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die Erinnerung zurück …
    Amsterdam, 1087
    Das Kleid war rot und ganz und gar kein Kleid für ein jungfräuliches Mädchen. Sie glühte vor Stolz, als sie mit den Händen über den feinen Wollstoff strich, der sich über ihren knospenden Brüsten spannte. »Danke, Mutter«, wisperte sie. Es war ein wunderbares Geschenk, ein Symbol des Übergangs zur Frau.
    »Ja, nun.« Ihre Mutter sah sie an und wandte dann den Blick ab. »Flitterkram, mehr nicht.«
    Ihnen gehörte das größte Haus innerhalb der Mauern der mittelalterlichen Stadt, die sich um einen Hafen schmiegte, in dem Schiffe aus weit entfernten Ländern anlegten und ihre Fracht und ihr Geld ausluden. Die Steinmauern des Hauses waren mit Wandteppichen behängt, um die Kälte abzuhalten. Bea beobachtete ihre Mutter, die an ihrem Toilettentisch saß. Das goldene Licht der blakenden Öllampen ließ den Raum warm erscheinen, auch wenn er es nicht war. Mütter sahen wie Mütter aus, und es war schwer zu sagen, ob sie schön waren. Aber Bea hatte viele Männer sagen hören, dass ihre Mutter schön sei, also wusste sie, dass es wahr war. Sie wollte erwachsen werden, um wie sie zu sein.
    Beas Mutter bürstete sich das üppige dunkle Haar, bis es glänzte. »Du bekommst allmählich Brüste, Bea.« Es klang wie eine Anklage.
    Bea zuckte mit den Schultern, um alle Schuldgefühle abzuschütteln. Aber die Fakten waren schwer zu leugnen.
    »Du wirst dich bald verändern.« Die Stimme ihrer Mutter klang hart.
    »Wie verändern?«, fragte Bea schüchtern.
    Ihre Mutter stand auf; der Saum ihres Kleides schleifte über die Binsen, die auf dem Boden ausgelegt waren. Wie gelähmt schaute sie auf Bea herunter, bevor sie sich unvermutet abwandte und zu ihrer Schmuckkassette ging. Sie war aus geschnitztem Holz und kam aus den Ländern weit im Süden, jenseits des Meeres. Sie wandte sich nicht um, als sie sagte: »Es ist Zeit für mich weiterzuziehen.«
    Bea neigte den Kopf. »Wie meinst du das, Mutter?«
    »Unsere Art zieht alle zwanzig, dreißig Jahre weiter«, sagte ihre Mutter mit scheinbarem Gleichmut. Sie legte ihre Ohrringe mit den großen schimmernden Perlen an.
    »Warum?«
    »Die Leute beginnen zu merken, dass wir nicht älter werden, nachdem wir die Zeit der Reife erreicht haben.«
    »Älter werden«, sagte Bea nichts. Sie war vierzehn. »Wohin werden wir gehen?« Bea hatte nie einen anderen Ort als Amsterdam gekannt. War es möglich, seine Wurzeln zu kappen und einfach … fortzugehen?
    Ihre Mutter sah sie scharf an und wandte dann wieder den Blick ab. »Irgendwohin.«
    Bea kannte diesen Ton. Deshalb wagte sie es nicht weiterzufragen. Die Launenhaftigkeit ihrer Mutter ängstigte sie.
    Ihre Mutter blickte auf. »Oh, nun schau nicht wie ein verängstigtes Kaninchen drein, Bea«, fauchte sie. Dann murmelte sie: »Du wirst bald herausfinden, dass es nicht das ist, was du bist.«
    »Was bin ich denn dann?«, wisperte Bea und hoffte, die Frage ließ sie weniger wirken wie ein furchtsames Kaninchen.
    Ihre Mutter wurde schroff. »Ich habe dafür gesorgt, dass du für dich geblieben bist, aber sicherlich hast du bemerkt, dass du nicht wie andere Kinder bist. Oder so wie Marte.« Bea schaute sie nur an, mit großen Augen. Ihre Mutter hob die Hände. »Keine zerschrammten Knie? Keinerlei Krankheiten? Gott weiß, dass du ein kleiner Raufbold bist, aber du musst bemerkt haben, dass du stärker bist als die anderen, schneller laufen kannst als sie. Du kannst Dinge hören, die sie nicht hören können, kannst im Dunkeln sehen, wenn sie es nicht können.«
    Bea sagte nichts. Sie wusste, dass sie anders war. Sie hatte sich manches Mal dafür geschämt. Marte nannte sie einen Jungen, weil sie so stark war.
    Ihre Mutter legte sich eine Perlenkette um den Hals. Sie fiel über ihre Brüste herab, die der eckige Ausschnitt ihres Kleides aus auberginefarbenem Samt betonte. Sie seufzte erbittert. »Nun gut. Du wirst lernen. Auf die Art, wie wir alle es lernen. Ich war nie für diese Dinge gemacht, musst du wissen.«
    Welche Dinge meinte sie?
    »Wer konnte auch ahnen, dass du mir aufgehalst werden würdest? Keine von uns hatte ein Kind, so lange wir uns erinnern können. Warum ich? Ich kann nicht …« Sie wurde wütender. Beklommen trat Bea von einem Fuß auf den anderen. »Ach, vergiss es. Geh zu Bett. Ich werde ausgehen.« Ihrer Mutter schien die Stimme zu versagen.
    Bea sah nicht nur den vertrauten Zorn in den Augen ihrer Mutter, sondern auch noch etwas anderes. Scham? Angst? Beas Augen
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