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Der Ruf der Pferde

Der Ruf der Pferde

Titel: Der Ruf der Pferde
Autoren: Jutta Beyrichen
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nach, wie er in weiten Bögen nach unten segelte und sich im Efeu verfing, der an dem alten Gemäuer des Wohntraktes emporrankte. Ethan ließ den Blick über das weitläufige Schulgebäude schweifen. Dem Wohntrakt gegenüber befand sich das eigentliche Schulgebäude – ein alter, ehrwürdiger Bau im neugotischen Stil mit hohen Bogenfenstern. Es stand inmitten eines großen Parks und war einst ein herrschaftlicher Landsitz gewesen. Allerdings wirkte es viel freundlicher und nicht so antiquiert wie der väterliche Besitz, was Ethan als Wohltat empfand. Die Lehrer waren auch einigermaßen okay, und mit den Mitschülern – besonders Tom – kam Ethan gut aus. Das Beste war allerdings, dass sie hier einen relativ modernen Computerraum besaßen, den die Schüler jederzeit benutzen durften. Für Ethan, der zu Hause nur davon träumen konnte, Zeit am Computer zu verbringen, war er inzwischen mehr oder weniger zum Mittelpunkt seines Internatslebens geworden. Hier fühlte er sich wohl, kannte sich aus, es machte ihm Freude, er fand Anerkennung, und er wusste so deutlich wie nichts anderes, dass das genau das Fachgebiet war, in dem er weitermachen wollte. Aber in St. Andrews würde das vorbei sein.
    Ethan blinzelte in die tief stehende Abendsonne. Er konnte von hier aus bis hinüber auf die Sportplätze schauen und sah seine Mitschüler beim Hockey-und Lacrosse-Training. Ein paar jüngere spielten Cricket. Noch weiter entfernt ging gerade eine Gruppe Mädchen in den langen grauen Röcken und schwarzen Blazern der Schuluniform den Weg über die grünen Hügel in Richtung Dorf hinunter. Internatsalltag, fern der Realität. Sollte das ewig so weitergehen? Erst hier und dann in St. Andrews?
    Ethan schloss das Fenster und schlug mit der Faust gegen die Wand. Es tat weh und irgendwie fühlte es sich gut an, weil es wehtat.
    Wie zum Teufel kam er nur um diese Sache mit St. Andrews herum?

3.
    Es klopfte an die Tür, doch Patricia rührte sich nicht.
    »Pat?« Die Tür ging einen Spalt auf und der rote Lockenschopf von Jennifer schob sich hindurch. »Dürfen wir reinkommen?«
    Patricia gab keine Antwort. Sie saß auf ihrem Bett, die Beine angezogen und das Kinn auf die über den Knien verschränkten Arme gelegt. Ihre Haare hingen ungekämmt herunter, ihre Kleidung sah aus, als hätte Patricia willkürlich irgendetwas aus dem Schrank gezerrt, ohne darauf zu achten, was es war. Die Musik aus dem CD-Player dröhnte in ohrenbetäubender Lautstärke.
    Jennifer und Katie blickten sich an, dann betraten sie das Zimmer. Katie setzte sich neben Patricia aufs Bett, während Jennifer zuerst unauffällig die Musik ein wenig leiser drehte, bevor sie sich den Schreibtischstuhl heranzog und darauf niederließ.
    »Deine Mutter hat uns reingelassen«, begann Katie ein wenig unsicher. »Wir wollten mal nach dir schauen, weil du dich in letzter Zeit überhaupt nicht mehr blicken lässt. Ich hab dir schon ein Dutzend SMS geschickt, hast du sie nicht gelesen?«
    »Mein Akku ist leer«, sagte Patricia, aber sie rührte sich nicht und hob auch nicht den Blick zu den Freundinnen. Ihr Gesicht war sehr blass, unter den Augen hatte sie dunkle Ringe.
    Jennifer räusperte sich.
    »Helen hat schon öfter nach dir gefragt, sie macht sich Sorgen. Und Goldie vermisst dich auch.«
    »Ich hab Goldie ein paar Mal bewegt«, mischte sich nun Katie ein. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Sie kann ja nicht die ganze Zeit stehen, sonst ist sie im Reitunterricht immer ganz kirre und wirft die Anfänger aus lauter Übermut ab.« Sie musterte Patricia ein wenig ängstlich, aber als diese nichts sagte, fuhr sie ermutigt fort. »Ich hab sie auch geputzt und ihr ab und zu ein paar Möhren gebracht. Meine Missy ist schon ganz eifersüchtig.« Katie probierte ein zaghaftes Lächeln.
    »Ich hab mich mit Linus für die Dressurprüfung angemeldet«, warf nun Jennifer ein. »Du weißt schon, für die Ende Mai in Glasgow. Linus geht wirklich gut im Moment, es scheint ihm richtig Spaß zu machen.«
    Patricia hörte zu, aber sie fühlte sich wie unter einer Glasglocke. Alles schien weit von ihr weg, die Namen der Pferde kamen ihr seltsam unbekannt vor. Und alles war so uninteressant. Warum erzählten sie ihr eigentlich davon?
    Als Katie und Jennifer nichts mehr einfiel, über was sie sprechen sollten, verstummten sie und blickten sich hilflos an. Sie kannten Patricia nicht mehr wieder.
    »Pat«, begann Jennifer behutsam, »es ist furchtbar, was mit Gavin passiert ist. Wir alle sind fix
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