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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
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klammerten sich an seine Weste, und er plumpste krachend auf den
Perserteppich. Ein Fuß zuckte fünfmal grauenerregend. Das eine
offene Auge wurde an das Bein des Stuhles, auf dem sie saß,
gedrückt; es hatte die Form einer Kralle. Sie rührte sich nicht. Sie
schrie auch nicht, noch wurde sie ohnmächtig; ihre einzige Reaktion
war, den Saum ihres Kleides von dem glänzenden Glatzkopf
wegzuziehen und mit geschlossenen Augen mehrmals tief
durchzuatmen. Ihr Vater hatte sie dies gelehrt als Mittel gegen Panik.
Seine Lehre war nützlich gewesen, es half.
Als sie sich wieder beruhigt hatte, stand sie vorsichtig auf und
entfernte sich einige Schritte von dem Körper. Ihr Gemüt war in
Aufruhr, aber ihre Hände blieben vollkommen ruhig, stellte sie fest.
Gut, dachte sie. Wenn ich Angst habe, kann ich mich auf meine
Hände verlassen. Das gefiel ihr unverhältnismäßig; und dann hörte sie
eine laute Stimme im Korridor.
„Samuel Selby, Schiffsmakler. Kapiert?" sagte diese Stimme.
„Mr. Lockhart ist nicht da?" entgegnete eine etwas zaghaftere
Stimme.
    „Mr. Lockhart gibt's nicht mehr. Der liegt im Südchinesischen
Meer, der Teufel soll ihn holen. Ich meine natürlich, Friede seiner
Seele. Und hörn Se, übermalen Sie's. Übermalen, kapiert? Übrigens
mag ich kein Grün, 'n helles, freundliches Gelb und Wellenlinien
rundrum. So richtig modisch. Kapiert?"
„Ja, Mr. Selby", kam die Antwort.
    Die Tür ging auf und die Person, die zuerst gesprochen hatte, kam
herein. Es war ein kleiner, dicker Mann mit einer Tolle strohblonden
Haares und rötlichem, lang herunterhängendem Backenbart, der einen
unschönen Kontrast bildete zu seinen hochroten Backen. Er blickte
umher -- und übersah den Körper von Mr. Higgs, der durch den breiten
Mahagonischreibtisch verdeckt war. Statt dessen blieb sein stechender
Blick auf Sally haften.
    „Wer sind Sie?" wollte er wissen. „Wer hat Sie reingelassen?"
„Der Portier", antwortete sie.
„Wie heißen Sie und was wolln Sie hier?"
„Ich heiße Sally Lockhart. Aber - " Er pfiff leise durch die Zähne.
„Mr. Selby, ich - "
„Wo ist Higgs? Er kann sich Ihnen widmen. Higgs! Kommen Sie
    raus!"
„Mr. Selby, er ist tot..."
Er wurde still und blickte auf die Stelle, auf die sie zeigte. Dann
    ging er um den Schreibtisch herum.
„Was geht hier vor? Wann ist das passiert?"
„Grade eben. Wir haben uns unterhalten und plötzlich -- ist er
umgefallen. Vielleicht war's sein Herz... Mr. Selby, kann ich mich
hinsetzen?"
    „Ja, ja, und was dann? Blöder Esel. Ich mein nicht Sie, sondern ihn.
Warum hat er nicht soviel Anstand und stirbt bei sich zu Hause? Ich
nehme an, er ist tatsächlich tot? Harn Sie sich vergewissert?"
„Ich glaube nicht, daß er noch am Leben sein kann."
     
Mr. Selby rollte den Körper auf die Seite und starrte dem toten
Mann in die Augen, die widerlich nach oben glotzten. Sally schwieg.
    „Mausetot", stellte Mr. Selby fest. „Muß jetzt wohl die Polizei rufen
lassen. Verdammt noch mal. Was ham Se denn eigentlich hier wollen?
Das ganze Zeug von Ihrem Vater ist zusammengepackt worden, und
dann hat man's an den Rechtsanwalt geschickt. Es gibt hier nichts
mehr für Sie."
Irgend etwas veranlaßte Sally, vorsichtig zu sein. Sie nahm ein
Taschentuch heraus und tupfte sich die Augen.
     
„Ich -- ich wollte nur das Büro meines Vaters sehen", sagte sie.
    Mr. Selby brummte argwöhnisch, öffnete die Tür und schrie nach
unten nach dem Portier, der die Polizei rufen sollte. Ein Angestellter,
der mit einem Armvoll Hauptbücher an der offenen Tür vorbeikam,
schaute herein und reckte den Hals.
    Sally stand auf. „Kann ich jetzt gehen?"
„Wohl kaum", sagte Mr. Selby. „Sie sind ja schließlich Zeuge. Man
muß Ihren Namen und Ihre Adresse notieren, und Sie müssen bei der
gerichtlichen Untersuchung der Todesursache dabei sein. Warum
wollten Sie eigentlich das Büro sehen?"
    Sally schniefte laut und tupfte sich noch übertriebener die Augen.
Sie fragte sich im Stillen, ob sie einen Schluchzer riskieren könnte.
Sie wünschte sich anderswohin, um nachdenken zu können; und
allmählich bekam sie Angst vor der Neugier dieses kleinen, heftigen
Mannes. Wenn die Erwähnung der ,Sieben Wohltaten' tatsächlich Mr.
Higgs getötet hatte, so verspürte sie kein Verlangen, Mr. Selbys
Reaktion zu testen. Aber Weinen war eine gute Idee. Mr. Selby war
nicht scharfsinnig genug, argwöhnisch zu werden, und verscheuchte
sie mit einer Handbewegung, die seinen ganzen
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