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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
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an diesem Morgen eingetroffen. Er
war vom Rechtsanwalt an die Adresse in Peveril Square, Islington, wo
Sally wohnte, weitergeleitet worden. Das Haus gehörte einer
entfernten Verwandten ihres Vaters, einer grimmigen Witwe namens
Mrs. Rees; Sally lebte hier seit August. Sie war unglücklich hier, hatte
aber keine andere Wahl. Mrs. Rees war ihre einzige lebende
Verwandte. Ihr Vater war vor drei Monaten gestorben, als der Schoner
Lavinia im Südchinesischen Meer sank. Er war dorthin gereist, um
einige undurchsichtige Geschäftspraktiken, von denen die Agenten der
Gesellschaft im Fernen Osten berichtet hatten, zu prüfen -- dies konnte
nicht von London aus geschehen, sondern mußte an Ort und Stelle
untersucht werden. Er hatte sie vor seiner Abreise gewarnt, daß es
vielleicht gefährlich werden könnte.
„Ich möchte mit unserem Mann in Singapur sprechen", hatte er
gesagt. „Es ist ein Holländer namens van Eeden. Ich weiß, daß er
vertrauenswürdig ist. Falls ich nicht zurückkehren sollte, so wird er
dich aufklären können."
„Könntest du nicht einen anderen schicken?"
„Nein. Es ist meine Firma, da muß ich selbst gehen."
„Aber Vater, du mußt ganz einfach zurückkommen!"
„Natürlich komm ich zurück. Aber du mußt auf -- auf alles gefaßt
sein. Ich weiß, daß du tapfer sein wirst. Halt dein Pulver trocken, mein
Mädchen, und denk an deine Mutter..."
Sallys Mutter war vor fünfzehn Jahren während der Indischen
Meuterei umgekommen -- durchs Herz geschossen vom Gewehr eines
Sepoys im gleichen Augenblick, in dem eine Kugel aus ihrer Pistole
ihn tötete. Sally war ein paar Monate alt -- das einzige Kind. Ihre
Mutter war eine leidenschaftliche, romantische junge Frau gewesen,
die wie ein Kosake ritt, wie ein Meisterschütze schoß und kleine,
schwarze Zigarren im Elfenbeinhalter rauchte -- zum Entsetzen des
faszinierten Regiments. Sie war Linkshänderin; deshalb hielt sie die
Pistole in der linken Hand und Sally in der rechten, und deshalb
verfehlte die Kugel, die sie ins Herz traf, das Baby, streifte aber den
kleinen Arm und hinterließ eine Narbe. Sally konnte sich nicht an ihre
Mutter erinnern, liebte sie aber.
Seit dieser Zeit war sie von ihrem Vater aufgezogen worden -- in
den Augen diverser Klatschbasen recht eigenartig, aber schließlich
war es schon eigenartig genug, daß Hauptmann Matthew Lockhart die
Armee verließ und die zweifelhafte Karriere eines Schiffsagenten
aufnahm. Mr. Lockhart gab seiner Tochter abends persönlich
Unterricht und ließ sie tagsüber machen, was sie wollte. Mit dem
Ergebnis, daß ihre Kenntnisse, was englische Literatur, Französisch,
Geschichte, Kunst und Musik anbetraf, gleich null waren, dagegen
eignete sie sich ein gründliches Wissen an, was militärische Taktiken
und Buchhaltung anging, war eng vertraut mit den Vorgängen an der
Börse und besaß Grundkenntnisse in Hindustani. Außerdem konnte
sie gut reiten (obwohl ihr Pony mit der Kosaken-Manier nicht
einverstanden war), und an ihrem vierzehnten Geburtstag hatte ihr
Vater ihr eine kleine belgische Pistole gekauft, die sie überall
mitnahm, und ihr das Schießen beigebracht. Sie war jetzt fast ein so
guter Schütze wie ihre Mutter.
Sie war ein Einzelgänger, aber wunschlos glücklich; der einzige
Schatten auf ihrer Kindheit war der Alptraum. Ein- oder zweimal im
Jahr passierte es. Sie glaubte in unerträglicher Hitze zu ersticken -- die
Dunkelheit war undurchdringlich -- und irgendwo in der Nähe gellte
die Stimme eines Mannes in furchtbarer Todesangst. Dann pflegte aus
der Dunkelheit ein flackerndes Licht aufzutauchen wie eine Kerze, die
von einer Person gehalten wurde, die auf sie zukam. Eine andere
Stimme schrie dann immer: „Da! Schau ihn an! Guter Gott -- schau -",
aber sie wollte nicht schauen. Nicht um alles in der Welt wollte sie
dies tun, und an dieser Stelle wachte sie auf, in Schweiß gebadet, halb
erstickt und schluchzend vor Angst. Ihr Vater kam dann immer
angerannt und beruhigte sie, und kurz darauf schlief sie wieder ein,
aber es dauerte etwa einen Tag, bis sie sich nicht mehr belastet fühlte.
Dann kam die Reise ihres Vaters und die Wochen der Trennung und
schließlich das Telegramm, das seinen Tod mitteilte. Sofort nahm der
Rechtsanwalt ihres Vaters, Mr. Temple, die Sache in die Hand. Das
Haus in Norwood wurde abgeschlossen, die Dienstboten ausbezahlt,
das Pony verkauft. Es hatte den Anschein, als gebe es eine
Unregelmäßigkeit im Testament ihres
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