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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
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der olle Higgsy
vorher reinkam", sagte er.
„Verlogen", sagte der Portier wenig überzeugend. „Jetzt mach mal,
daß de weiterkommst."
    „Die krieg ich schon noch", sagte der Junge. „Sie können noch was
erleben, meine Sachen zu klauen. Los, komm schon", sagte er zu Sally
und entfernte sich.
„Nehmen Se 's nich übel, Miss Lockhart, dem da ham se als Kind
nich genug die Hosen stramm gezogen", sagte der Portier.
    „Ist mir egal", sagte Sally. „Danke. Ich komm noch mal vorbei und
sag auf Wiedersehn, bevor ich gehe."
Der Junge wartete am Treppenaufgang auf sie. „War dein alter Herr
der Boß?" fragte er, während sie hinaufgingen.
„Ja", antwortete sie und wollte eigentlich mehr sagen, fand aber
nicht die richtigen Worte.
„War 'n prima Kerl."
Sie faßte es als Sympathieerklärung auf und war dankbar dafür.
„Kennst du jemand, der Marchbanks heißt?" fragte sie. „Gibt es
einen Mr. Marchbanks, der hier arbeitet?"
„Ne. Nie gehört den Namen."
„Oder -- hast du je..."
Sie waren jetzt fast am Treppenende, und sie blieb stehen, um die
Frage vollends auszusprechen. „Hast du je von den ,Sieben
Wohltaten' gehört?"
„Was?"
„Bitte, es ist wichtig."
„Nein, hab ich nicht", antwortete er. „Klingt wie 'ne Kneipe oder so
was. Was soll das sein?"
„Hab's bloß mal so gehört. Nichts Wichtiges. Vergiß es bitte", sagte
sie und stieg noch die letzten Stufen hinauf. „Wo ist denn Mr. Higgs?"
„Hier drin", antwortete er und trommelte an eine getäfelte Tür.
Ohne auf Antwort zu warten, öffnete er sie und rief: „Die Dame
wünscht Mr. Higgs zu sprechen; heißt Miss Lockhart."
Sie trat ein, und die Tür schloß sich hinter ihr. Der Raum strahlte
eine Atmosphäre von Glanzleder, Mahagoni, Tintenfässern,
Schubladen mit Messinggriffen und Briefbeschwerern aus Glas aus;
dichter Zigarrenqualm empfing sie. Ein korpulenter Mann mit einem
vor Anstrengung glänzenden Gesicht versuchte, auf der anderen Seite
des Raumes eine große Wandkarte aufzurollen. Seine Glatze glänzte,
seine Stiefel glänzten, das Freimaureremblem auf der schweren
goldenen Uhrkette auf seinem Bauch glänzte, sein Gesicht glühte vor
Anstrengung; man sah ihm an, daß er Weinliebhaber und kein
Kostverächter war.
Er hatte die Karte nun ausgerollt und blickte auf. Seine Züge
nahmen einen feierlichen, scheinheiligen Ausdruck an. „Miss
Lockhart? Tochter des verstorbenen Matthew Lockhart?"
„Ja", antwortete Sally. Er breitete die Arme aus.
„Liebe Miss Lockhart", sagte er, „ich kann Ihnen nur versichern,
daß wir zutiefst erschüttert waren über den schweren Verlust, den Sie
erlitten haben. Ein feiner Mensch, ein großzügiger Arbeitgeber, ein
Christ und Gentleman, ein tapferer Soldat, ein... äh, ein großer
Verlust, ein trauriger und tragischer Verlust."
Sie senkte den Kopf. „Sie sind sehr freundlich", sagte sie. „Aber
darf ich Sie etwas fragen?"
„Natürlich, meine Liebe!" Er war gefühlvoll und leutselig
geworden, rückte ihr einen Stuhl zurecht und stand mit seinem breiten
Hinterteil zum Feuer und strahlte wie ein Weihnachtsmann. „Ich tue
alles, was in meiner Macht steht, das schwöre ich!"
„Sie sollen gar nichts tun -- es ist viel einfacher -- ich wollte nur
wissen, ob mein Vater je einen Mr. Marchbanks erwähnt hat? Kennen
Sie jemanden, der so heißt?"
Er schien es sich äußerst gewissenhaft zu überlegen. „Marchbanks.
Marchbanks... es gibt einen Schiffsausrüster in Rotherhithe, der so
heißt... der schreibt sich allerdings Mar-jo-ri-banks. Könnte es der
sein? Aber ich kann mich nicht entsinnen, daß Ihr armer Vater je mit
ihm zu tun hatte."
„Möglicherweise", gab Sally zur Antwort. „Kennen Sie seine
Adresse?"
„Ich glaube Tasmania Kai", sagte Mr. Higgs.
„Danke. Und dann noch etwas. Es hört sich ein bißchen blöde an,
und ich sollte Sie wirklich nicht damit belästigen, aber - "
„Meine liebe Miss Lockhart! Alles Menschenmögliche wird
geschehen. Sie brauchen bloß zu sagen, wie ich helfen kann."
„Also gut -- haben Sie je den Ausdruck ,Die sieben Wohltaten'
gehört?"
Hierauf geschah etwas Außerordentliches. Wie schon erwähnt, war
Mr. Higgs ein großer, wohlgenährter Mann, deshalb lag es vielleicht
nicht so sehr an Sallys Frage, sondern am langjährigen Genuß von
Portwein, kubanischen Zigarren und üppigen Mahlzeiten, die sein
Herz aussetzen und ihn nach Luft schnappen ließen. Er machte einen
Schritt nach vorne -- dann wurde ihm schwarz vor Augen, seine Hände
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