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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
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Vaters bzw. in der Stiftung, die
sein Werk war, so daß Sally viel ärmer sein wurde, als man geglaubt
hatte. Sie wurde der Obhut einer Cousine zweiten Grades ihres Vaters,
Mrs. Rees, anvertraut, und dort hatte sie bis zu dem Morgen, an dem
der Brief kam, gewohnt.
Bevor sie ihn öffnete, glaubte sie, er müsse von dem holländischen
Agenten Mr. Van Eeden sein. Aber das Papier war zerrissen und die
Schrift kindlich und unbeholfen, ein europäischer Geschäftsmann
würde doch sicher nicht so schreiben? Außerdem war er ohne
Unterschrift. Sie hatte das Büro ihres Vaters in der Hoffnung
aufgesucht, daß dort jemand wisse, was damit gemeint sei.
Und sie hatte herausgefunden, daß das der Fall war. Mit der
Pferdebahn, die drei Pennies kostete, kehrte sie nach Peveril Square
zurück (sie bezeichnete es nicht als ihr Zuhause) und bereitete sich
innerlich darauf vor, Mrs. Rees entgegenzutreten.
Man hatte ihr keinen Haustürschlüssel gegeben. Das war eine von
Mrs. Rees' Methoden, sie spüren zu lassen, daß sie nicht willkommen
war: sie mußte jedesmal klingeln, wenn sie hinein wollte. Die
Hausangestellte, die sie einließ, tat dies immer mit einer Miene, als sei
sie bei einer wichtigen Arbeit gestört worden.
„Mrs. Rees ist im Wohnzimmer", sagte sie kurz angebunden. „Du
sollst sofort zu ihr kommen."
Sally traf die Dame neben einem schwachen Kaminfeuer an, wo sie
einen Band mit Predigten ihres verstorbenen Mannes las. Sie sah nicht
auf, als Sally eintrat, und Sally schaute auf ihr glanzloses, rötliches
Haar und die schwammige, kalkweiße Haut und haßte sie. Mrs. Rees
war eine Endvierzigerin, hatte aber früh in ihrem Leben die
Feststellung gemacht, daß die Rolle eines alternden Tyrannen ihr
zusagte, und sie spielte dieselbe nach besten Kräften. Sie tat, als sei
sie eine zerbrechliche Siebzigerin. Nie im Leben hatte sie selbst einen
Finger gerührt oder einen freundlichen Gedanken an andere
verschwendet. Sallys Anwesenheit war ihr lieb, weil sie dadurch eine
Chance zum Herumkommandieren hatte.
Sally stand neben dem Feuer und wartete, schließlich begann sie zu
reden. „Es tut mir leid, daß ich spät dran bin, Mrs. Rees, aber ich - "
„Tante Caroline heißt das, Tante Caroline", sagte die Dame
irritiert. „Mein Anwalt hat mir gesagt, daß ich deine Tante bin. Ich
habe es nicht erwartet, mich nicht darum gerissen, aber ich werde
mich auch nicht davor drücken."
Ihre Stimme klingt krächzend und weinerlich, dachte Sally, und sie
spricht immer so langsam...
„Das Mädchen hat gesagt, daß du mit mir sprechen willst, Tante
Caroline."
„Ich habe mich mit wenig Erfolg dem Thema deiner Zukunft
gewidmet. Ich frage mich, ob du vorhast, für immer unter meinen
Fittichen zu bleiben. Oder reichen fünf Jahre oder auch zehn? Ich
versuche nur, das Terrain zu sondieren. Es ist ja klar, daß du keine
Zukunftsaussichten hast, Veronica. Möchte wissen, ob dir das schon
mal durch den Kopf gegangen ist. Welche Fertigkeiten hast du?"
Sally haßte den Namen Veronica, aber Mrs. Rees hatte gesagt, daß
Sally ein Dienstbotenname sei, und weigerte sich, sie so zu nennen.
Sie stand jetzt stumm da und war unfähig, sich eine höfliche Antwort
auszudenken und bemerkte, daß ihre Hände anfingen zu zittern.
„Miss Lockhart ist offensichtlich bemüht, nur durch
Gedankenübertragung mit mir zu kommunizieren, Ellen", sagte Mrs.
Rees zu dem Mädchen, das unterwürfig mit gefalteten Händen und
unschuldig geweiteten Augen an der Tür stand. „Ich soll sie offenbar
ohne die Vermittlung der Sprache verstehen. Meine Ausbildung reicht
leider für so eine Aufgabe nicht, zu meiner Zeit hat man sich sehr
häufig der Sprache bedient. Wir haben zum Beispiel geantwortet,
wenn wir angesprochen wurden."
„Ich fürchte, ich habe keine -- Fertigkeiten, Tante Caroline", sagte
Sally leise.
„Keine außer Genügsamkeit, willst du das andeuten? Oder ist
Genügsamkeit nur die erste Tugend von vielen anderen? Ein so
trefflicher Herr wie dein verstorbener Vater hat dich doch sicher nicht
völlig unvorbereitet ins Leben entlassen?"
Sally schüttelte hilflos den Kopf. Zuerst der Tod von Mr. Higgs und
nun dies...
„Das dachte ich mir", sagte Mrs. Rees; leiser Triumph funkelte in
ihren Augen. „So kommt selbst das bescheidene Ziel einer Erzieherin
für dich nicht in Frage. Dann müssen wir uns eben mit etwas noch
Bescheidenerem begnügen. Möglicherweise könnte eine meiner
Freundinnen -- Miss Tullett vielleicht oder Mrs.
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