Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
baufällige Mietskasernen und von Ratten
heimgesuchte Gassen, enge Straßen, in denen sich die Türen nur auf
der Ebene des ersten Stockes befinden, überragt von vorspringenden
Balken und Flaschenzügen. Die Backsteinmauern, die auf der Höhe
des Bürgersteigs keine Öffnung hatten, und die brutal wirkenden
Vorrichtungen oben ließen den Ort wie ein gräßliches Verlies aus
einem Alptraum wirken. Das Licht dagegen, vom Ruß in der Luft
gefiltert und gemildert, schien von weither zu kommen -- wie durch
ein hohes, vergittertes Fenster.
Hangmans Kai war die allertrostloseste Stelle in Wapping. Die Zeit,
in der hier eine Werft gewesen war, war längst vorbei, doch der Name
war geblieben. Häuser und Läden, die Kaninchenbauten ähnelten, gab
es hier, deren Rückfronten auf den Fluß hinausgingen
-- ein
Schiffsausrüster, eine Pfandleihe, ein Bäcker, eine Kneipe namens
,Der Marquis von Granby' -- und eine Pension.
Im East End verbarg sich hinter dem Wort Pension vielfältiger
Schrecken. Im schlimmsten Fall bedeutete es einen Raum, der vor
Feuchtigkeit triefte, wie die Pest stank und in dem in der Mitte ein Seil
gespannt war. Arme, trunksüchtige Schlucker konnten einen Penny für
das Privileg zahlen, sich an dieses Seil zu hängen, um nicht auf dem
Boden liegen zu müssen. Im besten Falle bedeutete es ein
ordentliches, sauberes Zimmer, in dem das Seil, so oft die Vermieter
dran dachten, gewechselt wurde. Irgendwo dazwischen rangierte
Hollands Pension. Dort kostete das Bett -- zusammen mit anderen --
drei Pennies pro Nacht, ein Bett pro Person vier Pennies, ein eigenes
Zimmer sechs und das Frühstück einen Penny. In Hollands Pension
war man nie allein. Sollten die Flöhe einen je verschmähen, die
Wanzen waren nicht wählerisch, sie bissen jeden. In dieses Haus kam
Mr. Jeremiah Blyth, ein dicker, zwielichtiger Anwalt aus Hoxton.
Seine früheren geschäftlichen Transaktionen mit dem Eigentümer
waren anderswo abgewickelt worden, dies war sein erster Besuch am
Hangmans Kai. Auf sein Klopfen hin öffnete ein Kind die Tür -- ein
Kind, das an diesem trüben Nachmittag fast nur aus riesigen dunklen
Augen zu bestehe n schien. Es öffnete die Tür einen Spalt und
flüsterte: „Sie wünschen, Sir?"
„Ich bin Mr. Jeremiah Blyth", sagte der Besucher. „Mrs. Holland
erwartet mich."
Das Kind öffnete die Tür weit genug, um ihn eintreten zu lassen,
und schien dann von dem düsteren Flur aufgesogen zu werden.
Mr. Blyth trat ein, trommelte mit seinen Fingern auf den Zylinder,
starrte auf einen staubigen Stich, der Nelsons Tod darstellte und
versuchte, den Gedanken an den Ursprung der Flecken an der Decke
zu verdrängen.
Kurz darauf schlurfte die Eigentümerin des Hauses herein, sie roch
nach gekochtem Kraut und Katzenhaaren. Es war eine verhutzelte,
alte Frau mit eingesunkenen Wangen, zusammengekniffenen Lippen
und funkelnden Augen. Sie streckte ihrem Besucher eine krallenartige
Hand entge gen und begann zu reden -- aber sie hätte genausogut
Türkisch reden können, so wenig konnte sich Mr. Blyth einen Reim
darauf machen. „Verzeihung, Ma'am? Ich hab Sie nicht ganz
verstanden -- " Sie krächzte irgend etwas und ging voraus in einen
kleinen Salon, in dem es noch viel intensiver nach Katzen roch.
Sobald die Tür zu war, öffnete sie eine kleine Blechdose auf dem
Kaminsims, nahm ein Gebiß heraus, setzte es in ihren runzligen Mund
und schmatzte mit den Lippen. Es war ihr zu groß und sah scheußlich
aus.
„Schon besser", sagte sie. „Daheim vergeß ich die Dinger immer.
Harn meinem armen Mann gehört. Pures Elfenbein. Die sin vor
fünfundzwanzig Jahren da im Osten für ihn gemacht worn. Beste
Handarbeit, da schaun Se her!" Wie ein Raubtier bleckte sie braune
Vampirzähne und graues Zahnfleisch. Mr. Blyth wich einen Schritt
zurück. „Und als er gestorben is, der arme Kerl", fuhr sie fort, „da
hättn se mit ihm ins Grab solln, 's is ja so schnell mit ihm gegangen.
Cholera war's. Innerhalb von 'nem Wochenende is er gestorben, der
arme Hund. Aber ich hab se ihm grad noch aus 'm Mund genommen,
bevor se 'n Deckel draufgemacht ham. Die kann ich noch ewig tragen,
hab ich gedacht." Mr. Blyth schluckte trocken.
„Da, setzen Se sich", forderte sie ihn auf. „Fühlen Se sich wie zu
Hause. Adelaide!"
Das Kind tauchte auf. Sie konnte nicht älter als neun sein, dachte
Mr. Blyth. Von Gesetzes wegen müßte sie in der Schule sein -- die
neuen Volksschulen waren erst zwei Jahre zuvor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher