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Der Rubin im Rauch

Der Rubin im Rauch

Titel: Der Rubin im Rauch
Autoren: Philip Pullman
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unsere ersten Einnahmen dafür verwenden müssen, das Inventar
wieder zu kriegen, das wir erst gar nicht hätten verkaufen sollen?"
    Das sah er ein, und die Kamera blieb im Studio. Gelegentlich
machte er ein oder zwei Porträtaufnahmen, aber der Betrieb, der ihnen
allen so am Herzen lag, warf fast nichts mehr ab. Und Sally wußte,
daß sie das Geld hatte, ihn zu retten. Aber sie wußte auch, daß Mr.
Temple sie finden und allem einen Riegel vorschieben würde, sollte
sie versuchen, das Geld einzusetzen, und dann würde sie alles
verlieren.
    Schließlich kaufte sie an einem kalten Nachmittag Ende November
eine Zugfahrkarte mit dem wenigen Geld, das sie noch hatte, und fuhr
nach Norwood.
    Das Haus hatte sich in den vier Monaten, in denen sie es nicht
gesehen hatte, verändert. Die Fenster und die Tür waren angestrichen
worden, es gab ein neues, schmiedeeisernes Tor, und das Rosenbeet in
der Mitte der kreisförmigen Zufahrt war umgegraben worden. Es hatte
den Anschein, als sollte an diese Stelle ein Springbrunnen kommen.
Es war nicht mehr ihr Zuhause, und sie war froh darüber; die
Vergangenheit war vergangen.
    Die Mieter hießen Mr. and Mrs. Green, sie hatten eine große
Familie. Mr. Green war bei der Arbeit, als Sally ankam -- irgendwo in
der Stadt -- und Mrs. Green besuchte eine Nachbarin, aber eine
freundliche, geplagte Gouvernante empfing Sally sofort und hatte
nichts dagegen einzuwenden, daß Sally sich die Ställe anschaute.
    „Da hätten sie sicher nichts dagegen", sagte sie. „Sie sind sehr nett
-- Charles! Laß das! (zu einem kleinen Kind, das gerade den
Schirmständer demolierte). Gehe n Sie nur und schauen Sie sich um,
Miss Lockhart -- entschuldigen Sie bitte, aber ich muß -- oh, Charles,
hör auf! -- Sie finden sich doch zurecht? Sie kennen sich ja aus."
    Die Ställe waren unverändert, und der vertraute Geruch und der
Glockenschlag gaben ihr einen Stich; aber deswegen war sie nicht
gekommen. Im Nu hatte sie das Kästchen in dem Versteck entdeckt --
ein kleines Kästchen aus Rosenholz, mit Messing beschlagen, das
jahrelang auf dem Schreibtisch ihres Vaters gestanden hatte. Sie
erkannte es sofort und zog es heraus. Sie setzte sich auf den staubigen
Boden und machte es auf. Es steckte kein Schlüssel -- es hatte nur
einen Haken. Das Kästchen war mit Banknoten gefüllt. Es dauerte
eine Weile, bis sie begriff, was sie in der Hand hatte. Sie berührte sie
staunend, sie konnte nicht einmal erraten wieviel es war. Und dann
entdeckte sie den Brief.
22. Juni, 1872
Liebste Sally,
    wenn Du dies liest, ist das Schlimmste eingetreten, und ich bin tot.
Mein armes Mädchen, Du wirst viel zu ertragen haben -- aber Du hast
die Kraft dazu und wirst nicht aufgeben. Dieses Geld, mein Liebes, ist
für Dich. Es entspricht auf den Pfennig der Summe, die ich vor Jahren
bei Lockhart und Selby einbrachte, als Selby noch ein anständiger
Mann war. Die Firma wird bald pleite machen. Dafür habe ich
gesorgt. Aber dies habe ich gerettet, und es gehört Dir.
    Ich fühle mich nicht berechtigt, mehr zu nehmen. Dem Gesetz nach
wäre ich dazu berechtigt -- und ein großer Teil der Firmengeschäfte
war ganz sicher über jeden Verdacht erhaben -- aber die Firma ist nun
schon so lange in schlimme Geschäftspraktiken verstrickt, so daß ich
nicht den Wunsch hege, mehr zu entnehmen. Es ist meine Schuld, daß
dies nicht früher aufgedeckt wurde. Aber Selby wickelte die Geschäfte
mit dem Fernen Osten ab, und ich Dummkopf habe ihm vertraut. Es
ist meine Sache, dies wieder in Ordnung zu bringen. Zum Glück haben
wir einen guten Firmenvertreter in Singapur. Ich werde ihn
aufsuchen, und gemeinsam werden wir dafür sorgen, daß Licht in das
Dunkel dieser Praktiken gebracht wird.
    Dieses Böse ist das Opium, Sally. Es sind bestimmt eigenartige
moralische Bedenken für jemanden, der mit dem Fernen Osten Handel
treibt -- das ganze Chinageschäft, das wir jetzt haben, beruht auf
Opium. Aber ich verabscheue es.
    Ich verabscheue es, weil ich gesehen habe, was es George
Marchbanks, der einmal mein engster Freund war, angetan hat. Und
wenn Du dies liest, mein Liebes, weißt Du, wer er war und was wir für
einen Tausch gemacht haben. Sogar auf den Rubin fällt ein Schatten,
denn das Vermögen, mit dem er bezahlt wurde, stammte von den
Mohnfeldern von Agrapur. Diese Felder sind heute fruchtbarer denn
je; das Böse bleibt bestehen. Was Marchbanks betrifft, so habe ich ihn
seit jenem Tag nicht mehr gesehen,
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