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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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geöffnet. Ich bin da, um hier zu arbeiten.«
    Sofort sagt die Stimme: »Ich brauche niemanden.«
    Die Antwort macht mich wütend. Ich erinnere mich, dass Martin gesagt hat, x habe mit ihm gespielt. »Ich will Arbeit!«, wiederhole ich laut. »Ich kann sehr gut arbeiten! Sie brauchen mich!«
    »Ich brauche dich?«, fragt er zurück. Die Stimme tönt ironisch. Möglicherweise bilde ich mir das nur ein. Vielleicht sieht er mich. Ich wende den Kopf, suche nach einer Kamera, die auf mich gerichtet ist, finde keine, weiss aber, dass dies nichts zu bedeuten hat. »Lassen Sie mich hinein, Sie können mich gut brauchen!«, wiederhole ich.
    »In zehn Minuten«, sagt die Stimme langsam, »in zehn Minuten lass ich dich herein.«
    Ich lehne mit dem Rücken gegen den kalten Betonpfeiler, ich verbiete mir, jetzt die Augen zu schliessen. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Ich will nicht die Augen schliessen, weil ich sonst wahrscheinlich einschlafen würde; ich fühle eine ungeheure Müdigkeit in mir. Ich will ihr nicht nachgeben. Ich schaue auf meine Uhr. Auch nachdem zehn Minuten vergangen sind, öffnet x nicht. Soll ich nochmals klingeln? Ich weiss, dass ich hier draussen, bei diesen unendlich vielen eingesperrten Tieren – ich rieche sie, ich höre sie – im Dunkeln in einer aussichtslosen Lage bin. Ich bin noch schlimmer dran als Martin, der ausgesperrt worden ist. Er kann zum Auto zurück und dort übernachten. Ich lehne gegen den Betonpfeiler und schaue mit weit aufgerissenen Augen auf den gegenüberliegenden Pfeiler. Von Zeit zu Zeit sehe ich auf die Uhr – ich fixiere den dünnen Zeiger, der sich hastig und ruckartig bewegt (ein Zeichen dafür, dass die Batterie bald am Ende ist), und den grossen, langsamen.
    Nach weniger als einer Viertelstunde höre ich ein starkes Summen, ich stürze mich nach vorne auf den Türknopf. Ich stosse, und die Türe geht tatsächlich auf. Ich befinde mich in einer hellen, weiss gestrichenen Halle, die seltsamerweise einen Parkettboden hat. Natürlich ist sie fensterlos, das Licht stammt von vielen an den Wänden und an der Decke befestigten Spots. Mitten im Raum ist – wie ein weisser Kasten – eine Treppe. Ich starre kurz auf das Muster der ansteigenden Zickzacklinie, das die Stufen bilden, bis mir klar wird: Ich muss hier hinauf. Ich halte mich am Geländer fest und ziehe mich hoch.
    Die Treppe führt mitten in eine erleuchtete Halle. Wände und Decken sind weiss gestrichen, und durch die vielen hohen Fenster wird die blaue Nacht präsent. Ich drehe mich, ich schaue mich um. Ich stehe oben am Treppenabsatz und blicke nur auf dunkelblaue, leere Fenster an einer kahlen Wand. Aber wenn ich mich um hundertachtzig Grad drehe, sehe ich, erhöht, verschiedene Schreibtische, auf denen Computer stehen, Monitore, daneben ein grosses Kontrollpult, dahinter Regale; eigentlich ist es eine ganze, weisse Bürolandschaft. Am zentralen Schreibtisch sitzt ein Mann. Ich kann ihn nicht erkennen, da keine der Lampen auf ihn gerichtet ist – ich hingegen werde von Scheinwerfern angestrahlt
    Er sagt ein Wort, sagt: »Komm!« Ich erschrecke; ich kenne diese Stimme. Ich gehe auf ihn zu, stehe unterhalb der Plattform, auf der sein Schreibtisch steht, und schaue zu ihm hoch. Jetzt erkenne ich ihn.
    Wie eine Welle steigt das Grauen in mir hoch: x ist Kaspar. Natürlich ist er nicht Kaspar – wie käme Kaspar in den Roten Norden? Der Mann, dem ich gegenüberstehe, sitzt im Rollstuhl und hat eine andere Brille als Kaspar, aber er sieht aus wie Kaspar, und seine Stimme – nun unverzerrt – ist die von Kaspar. Er hat eben ein zweites Mal »Komm!« gesagt; seine Stimme ist Kaspars Stimme. Er hebt die Hand, auch seine Bewegungen sind die von Kaspar.
    Er spricht wieder. Er sagt: »Du willst arbeiten? Was kannst du denn?«
    Ich blicke in sein faltiges Gesicht, das ich so gut kenne, und sage: »Ich kann gut in der Küche arbeiten.« Die letzten zwanzig Jahre hat er mich, insbesondere vor Besuchern, dafür gelobt. Ich spüre die Müdigkeit in meinen Armen und Beinen, in meinem Körper, und ich wiederhole noch einmal: »Ich bin gut in der Küche.«
    Er verzieht den Mund (nur die rechte Seite, wie bekannt mir das doch ist) und weist mit der linken Hand auf eine Tür in der fensterlosen weissen Querwand der Halle: »Wenn du durch diese Türe gehst, wirst du die Küche finden. Ich schlage aber vor, dass du die Treppe hinabgehst, die du heraufgekommen bist. Unten gibt es einen Raum für Besucher. Du kannst morgen mit der
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