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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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Besuch kommt, fragt manchmal jemand nach dem Delfin. Er sieht unpassend aus neben dem Stich. Aber Kaspar erklärt es ihnen.
    Einer der beiden Nägel, an denen das Bild hängt, hat sich verbogen. Eigentlich merkwürdig, nach so vielen Jahren. Das Bild ist nach unten geglitten, und die Lehne des Sofas hat es aufgehalten. Die Frau hat es vom Nagel genommen, aufs Sofa gestellt. Vielleicht würde ja Kaspar den Nagel wieder befestigen. Oder eigentlich hätte sie es selber machen sollen.
    Mimi hat aufs Sofa gekotzt. Das macht sie hin und wieder. Sie kotzt gern. Man muss es nur aufputzen. Sie frisst etwas Gras, und dann kotzt sie klare Flüssigkeit mit ein paar Grasstücken. Dem Sofa schadet das nicht, es ist mit glänzendem Leder überzogen. Aber offenbar hat sich Mimi vor ein paar Tagen heimlich übergeben, ohne dass die Frau es gemerkt hat. Die Grashalme kleben unten am Bild; sie sind bereits trocken. Die Flüssigkeit ist unter dem Glas ins Bild hineingelaufen. Und am Bild hochgestiegen. Das Foto ist an verschiedenen Stellen aufgerissen, hat weisse Narben, mitten im Meer und auch auf dem unteren Teil des Delfins.
    Sie ist selber schuld. Sie hätte sich um den Nagel kümmern sollen.
    Die Frau wendet immer noch ihre Hände hin und her. Warum tut es so weh? Sie hat am Telefon vorhin selber gesagt: Man kann das Foto noch einmal vergrössern. Irgendwo ist sicher das Negativ. Warum tut es so weh, dass ein Foto kaputtgeht, das mehr als zwanzig Jahre neben einem Stich über einem Sofa gehangen hat?
    Die Hände der Frau sind jetzt ruhig. Sie starrt auf die steifen, gestreckten Finger. Stockend und ziemlich laut sagt sie:
    »Wenn das fertig ist, fahre ich weg.«
    Dann lässt sie die Hände auf den Rock sinken. Sie weint immer noch.
    Seltsam. Was meint die Person mit diesem Satz? Sie kann doch gar nicht weg. Sie sitzt doch in ihrem Wohnzimmer, in dem sitzt sie doch schon seit endlosen Jahren. Da kann sie noch so sehr Bilder kaputt machen und ihre Hände drehen und wenden, sie kommt da nicht weg. Da ist das Ledersofa und der grünwollene Polstersessel. Da ist der rechteckige Esstisch, an dessen einer Schmalseite ihr Mann zu sitzen pflegt, an der anderen Schmalseite, nahe der Küchentüre, sitzt sie. Der Stuhl an der Längsseite, an der weissen Wand, ist nur Dekoration. Er ist schon lange unbenutzt. Es hat Abdrücke dahinter, Zeichen in der Wand: von einem Kinderhochstuhl. Und tiefer einen von der Lehne des Stuhls, der seit Jahren keine Funktion mehr hat.
    Später steht diese Person, die ich bin, auf. Sie ist dick. Sie blinzelt. Ihr Gesicht ist aufgequollen. Zögernd geht sie auf den Tisch zu. Vielleicht sieht sie schlecht. Dort, auf dem Tisch, liegt eine Brille. Sie bewegt die eine Hand fahrig über den Tisch, bis sie an die Brille stösst. Sie setzt sie auf. Dann schaut sie das Zimmer an. Das Zimmer sollte sie doch kennen! Endlose Jahre hat sie darin verbracht, wird sie darin verbringen. Das Ledersofa, der grüne Ohrensessel, der Telefontisch, der rechteckige Tisch, drei Stühle mit hoher Lehne drum herum. Eine Türe zur Küche, eine andere zu einer sogenannten Gästetoilette. Sie öffnet diese Tür und holt einen runden Handspiegel heraus, den sie auf den Tisch legt. Sie beugt sich über ihn. Der Spiegelrahmen legt sich um ihr rotes Gesicht, das sie nur undeutlich erkennen kann.
    Darauf dreht sie den Spiegel um, sodass die gläserne Seite auf den Tisch zu liegen kommt. Sie blickt aus Distanz nochmals auf das Bild mit dem Delfin. Dann stapft sie breitbeinig zur Haustür. Das hätte ich nicht erwartet. Sie hat doch heute schon eingekauft! Bei der Türe sind Garderobenhaken. Sie nimmt eine weite hellbraune Jacke aus Webpelz und eine Handtasche von einem der Haken. Sie öffnet die Haustür und schiebt sich hinaus.

3.
    Ich fahre weg vom Haus. Ich fahre wirklich. Das Licht aussen ist schon schummrig. Ich habe die Scheinwerfer eingeschaltet. Wohin? Heute ist Mittwoch. Normalerweise fahre ich da zum Einkaufen.
    Überall sind Strassen, die einen zu irgendeinem Ort bringen. Später nehme ich eine Abzweigung, die zu einer Autobahn führt. Es ist jetzt Nacht. Es ist genügend Benzin im Tank, wie ich sehe. Vorwärts! Ich muss lächeln, weil ich ja eigentlich nicht vorwärts fahre, sondern ich fahre weg. Es sieht gleich aus, ob man vorwärts fährt oder ob man weg fährt. Von aussen, denke ich, sieht dieses Auto ganz normal aus. Es sieht aus wie alle anderen Autos, die vorwärts fahren. Niemand sieht ihm an, dass es wegfährt. Manchmal kommen
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