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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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Martin, der gestorben ist, lebt.
    Ich verlasse meine Parklücke und fahre zum Haus der Tante, das sich nicht weit entfernt von der St. Jakobskirche befindet. Ich fahre zum Haus der Tante, das ich mehr als zehn Jahre lang nicht mehr betreten habe. Damals, wie ich das letzte Mal dagewesen bin, ist es noch das Haus des Grossvaters gewesen. Ein Vorstadt-Einfamilienhaus in einem Garten, der sich mit einem Jägerzaun zur Strasse schliesst; daneben, hinter Zäunen, weitere sehr ähnliche Häuser. Ich parke den Wagen neben dem kleinen Tor aus verwitterten Latten. Die Front des Hauses ist fast vollständig von Efeu bedeckt. War da früher auch Efeu? Habe ich ihn früher nur nicht bemerkt? Einige bemooste Schieferplatten führen zur Haustüre. Ich klingle.

6.
    Dreimal muss ich läuten, bis die Tante aufmacht. Die Türe öffnet sich eine Handbreit und wird dann durch eine straff gespannte eiserne Türkette gestoppt. Durch die dunkle Öffnung äugt eine alte Frau hinaus. Ich spähe hinein. Ich sehe, dass ihr Gesicht sich verändert hat. Es ist abgemagert. »Wer sind Sie?« fragt sie zweimal mit heiserer Stimme. Sie kennt mich nicht mehr »Ich bin Sophie, Tante Sophie.« »Sophie? Ich kenne Sie nicht! Ich kenne keine Sophie!« Sie hat nicht vor, mich in ihr Haus zu lassen. Sie schliesst die Türe. Ich poche dagegen. Ich rufe: »Ich bin doch dein Patenkind, Tante Sophie! Ich bin doch Sophie!« Die alte Frau öffnet erneut eine Handbreit. Sie zwinkert, ihre Augen suchen mein Gesicht ab. Dann breitet sich ein Strahlen aus in ihrem Gesicht. »Die kleine Sophie? Du bist die kleine Sophie? Komm herein!« Sie schliesst die Türe, um die Kette zu lösen. Nach kurzer Zeit öffnet sich die Türe erneut. Das Licht fällt auf die Tante. Sie hat sich verändert. Da steht sie unter der Türe ihres Hauses in Strümpfen und einem abgetragenen Rock. Ihre offenen grauen Haare fallen ihr über den Rücken. Ich schäme mich, wie ich sie anblicke. Ich bin nicht die kleine Sophie, die gibt es seit sehr langer Zeit nicht mehr. Aber warum komme ich erst jetzt in dieses Efeuhaus? Sie braucht doch Hilfe, wie mir scheint.
    Ich trete ein. Tante Sophie schliesst ihre Haustüre und legt die Kette vor.
    Das Innere des Hauses hat sich nicht verändert. Rechts das Wohnzimmer, der dunkle Tisch, der mit blinden Nägeln beschlagene, speckige Leder-Lehnstuhl des Grossvaters in der Ecke. Die Luft ist abgestanden. Daneben Grossvaters Zimmer – ich erinnere mich an sein Bett, das mit einem grossen Leintuch überzogen war, seinen braunen Schreibtisch, den er immer abgeräumt hatte, bis auf ein paar Stifte in einer steinernen Schale. Ich öffne die angelehnte Tür zu diesem Zimmer. Hier ist einiges anders als in meiner Erinnerung, das Bett sieht ungemacht aus und schmuddelig, den Schreibtisch überdecken Papiere, vor allem alte Zeitungen, wie mir scheint. Doch die Tante steht im Wohnzimmer und ruft: »Komm, Sophie, komm her, setzen wir uns, du musst mir erzählen!« Sie setzt sich im Wohnzimmer auf einen der hochlehnigen Stühle, die um den dunkelbraunen Tisch herum gestellt sind. Auch diese braunen Lederrücken sind mit stumpfen Nägeln versehen; es sieht genau so aus wie damals, als ich ein kleines Mädchen war und meinen Grossvater und meine Tante besuchte. Sie deutet auf einen zweiten Stuhl, auf dem ich Platz nehme. »Erzähl!«, sagt sie noch einmal und lächelt mich runzelig an. »Wie geht es deinen Eltern? Wie geht es deinen Geschwistern?«
    Meine Mutter ist seit über dreissig Jahren tot, mein Vater lebt seit vielen Jahren mit einer neuen (jüngeren) Lebenspartnerin zusammen (was zur Feindschaft zwischen ihm, meinem Grossvater und meiner Tante geführt hat), meine ältere Schwester Leonie ist als neunjähriges Kind gestorben. Was kann ich auf die Frage der Tante antworten? Ich sage: »Es geht ihnen gut, Tante Sophie.«
    »Es geht ihnen gut«, wiederholt sie. »Hat sich niemand erkältet?«
    Ich schüttle den Kopf: »Nein, sie sind alle gesund.«
    Sie lächelt erneut. »Das freut mich.«
    »Wie geht es dir, Tante Sophie?« Sie geht nicht auf die Frage ein, sondern entschuldigt sich, keinen Kuchen für mich zu haben, da sie nichts von meinem Besuch gewusst habe. Ich schlage vor, dass wir gemeinsam Tee machen könnten. Damit ist sie einverstanden, und wir gehen in die Küche.
    Auf den ersten Blick hat sich die Küche nicht verändert. Die Flächen sind mit Kunststoff, der helles Holz imitiert, bezogen, Herd, Spüle und Abtropfbrett sind geputzt. Doch auf dem
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