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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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noch Tränen. Einfach so kommen sie, und dann verschwimmt die Autobahn.
    Die Überführung spannt sich, von weither sichtbar, über die Autobahn, sie zeichnet sich schwarz vom dunkelblauen Himmel ab. Oben auf der Überführung erkenne ich den Umriss eines Menschen, winzig, schwarz, der die Arme über den Kopf hebt. Laut hastet mein Auto auf der Strasse vorwärts.
    Der Wagen vor mir schreit im Dunkeln und schliddert nach rechts. Ich realisiere in einem Sekundenbruchteil, dass offenbar etwas auf die Autobahn gefallen ist, dem er ausweichen will. Möglicherweise bin ich darüber weggefahren. Mein Auto rollt weiter.
    Weit hinter der Überführung bringe ich den Wagen auf dem Pannenstreifen zum Stehen. Meine Hände verkrampfen sich am Lenkrad. Später löse ich die Finger vom Steuer und spreize langsam die Hände, sodass sie sich schwarz von der Frontscheibe abheben. Dann steige ich mühsam aus dem Auto und gehe zwei Schritte zurück. Aus dieser Perspektive ist der Himmel nicht dunkelblau; seine Farbe ist ein unklares Gemisch mit einem Rotstich. Die Überführung hebt sich scharf vom Himmel ab, und da ist der kleine Mensch erneut zu sehen. Er muss die Strasse, die von der Überführung getragen wird, überquert haben. Er hebt einen winzigen dünnen Arm und bewegt ihn leicht hin und her.
    Ich spähe nach dieser Erscheinung. Und dann, langsam, verstehe ich. Der da oben auf der Überführung, gelehnt an das Gitter, das diese Überführung abschliesst, wirft Objekte, Steine wahrscheinlich, auf Autos, die unter ihm durchfahren. Hält er jetzt den Arm hoch im Triumph, weil er glaubt, getroffen zu haben? Ist das so? Ich will später darüber nachdenken. Jetzt will ich weiterfahren, wegfahren.

4.
    Ich bin erstaunt und verwirrt, dass ich am anderen Morgen in einem Hotelzimmer erwache. Sonst liegt immer Kaspar bei mir. Keine Nacht ohne Kaspar. Kein Tag ohne Kaspar. Das zweite Bett neben mir ist unberührt. Ich tappe mit der linken Hand auf dem gespannten Leintuch herum. Das Bett ist wirklich leer und unberührt.
    Das Zimmer ist dämmerig. Ich stemme mich im Bett hoch und schaue, auf meine Fäuste gestützt, in den dunklen Spiegel an der Wand gegenüber dem Bett. Irgendwo muss meine Brille sein. Ich habe sie unter das Kopfkissen des Zwillingsbettes gelegt. Nun erkenne ich mich im Spiegel. Seltsam sehe ich aus mit dem leicht geöffneten Mund.
    Dann schiebe ich mich an den Bettrand. Ich trage den weissen Hotel-Bademantel, der im Badezimmer gehangen hat und den ich nun mit der linken Hand vor der Brust zuziehe. Ich stelle die Füsse auf den Teppichboden. Ich stapfe barfuss um die beiden Betten herum zum Fenster und schiebe die Vorhänge zurück. Es ist sonnig. Bäume und Rasen und Wege sind zu sehen; das Hotel, in dem ich mich diese Nacht einquartiert habe, hat offenbar einen Park. Ich stehe am Fenster und schaue hinaus. Das klare Grün draussen mahnt mich an den Delfin, der durchs blaue Wasser springt; es ist das gleiche Bild wie gestern – nur dass ich nicht mehr traurig bin.
    Ich ziehe die Vorhänge zur Seite, und das Zimmer wird taghell. Dann gehe ich zum Bett zurück, steige hinein, stopfe mir ein Kissen hinter den Rücken und winkle die Beine unter der Decke an. Neben dem Telefon, auf dem Nachttisch, liegt ein Notizblock mit dem Logo des Hotels, nach dem ich greife. Dann nehme ich den Bleistift, der daneben liegt (auch er mit dem Logo des Hotels), und schreibe mit recht krummen Grossbuchstaben auf das oberste Blatt:
    ICH BIN WEGGEGANGEN .
    Und dann, darunter:
    WARUM ?
    DER DELFIN
    DER MANN AUF DER ÜBERFÜHRUNG
    Ich überlege kurz. Warum schreibe ich, dass es ein Mann war? Könnte es nicht auch eine Frau gewesen sein? Aber dann schaue ich wieder auf den Notizblock und schreibe weiter:
    DIE BEERDIGUNG .
    Ich werde hingehen. Ich werde Martin wiedersehen. Und am Abend werde ich hier in dieses Hotel zurückkehren. Ich gehe nicht in das Wohnzimmer mit dem rechteckigen Tisch und dem grünwollenen Polstersessel zurück.
    TANTE SOPHIE
    schreibe ich auf den Notizblock mit dem Hotellogo. Es ist lange her, fast zehn Jahre, seit ich Tante Sophie zum letzten Mal gesehen habe. Wie war es damals? Ich versuche, aus Erinnerungsbruchstücken einen Sinnzusammenhang herzustellen. Merkwürdig, ich habe Tante Sophie nahezu vergessen, und dabei hat sie doch zu meinem Leben gehört.
    Und Folgendes kann ich zu Tante Sophie rekonstruieren:
    Sie ist die ältere Schwester meiner Mutter. Im selben Jahr, in dem meine Mutter geheiratet hat, ist meine
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