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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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Küchentisch und auf dem kleinen Abstelltisch daneben sehe ich Schwärme von Fruchtfliegen. Die Ursache dafür sind Dutzende von Marmeladengläsern, die, leergegessen, offen stehen und über die beiden Tische verteilt sind; fast alle Schraubverschlüsse liegen einfach neben den Gläsern. Die kleinen Fliegen bedecken dicht die Gläser, die Deckel, die Oberflächen der Tische, und wenn ich mit der Hand in ihre Nähe komme, steigen sie als gelbliche Wolken auf.
    Die Tante kocht Wasser in einem ausgebeulten kleinen Topf. Sie gibt mir zwei geblümte Porzellantassen, die ich ins Wohnzimmer trage. Ich gehe in die Küche zurück, erhalte eine geblümte Zuckerdose und einen kleinen Krug mit Milch, die ich ebenfalls ins Wohnzimmer bringe. Unterdessen hat sie den Tee aufgegossen und trägt die Kanne zum Wohnzimmertisch. Wir sitzen am Tisch, nehmen Milch und Zucker für unseren Tee. Sie wirft vier Stück Zucker hinein.
    Dann sagt sie wieder: »Erzähl, Sophie!«
    Was soll ich sagen? Ich kann nicht erzählen, dass ich nur hierhergekommen bin, weil Martin mir einen Brief geschrieben hat. Ich kann nichts von Kaspar erzählen. Ich kann schon gar nicht erzählen, dass ich gestern mein Haus, das Haus, in dem ich fast dreissig Jahre gewohnt habe, verlassen habe, dass ich es immer noch nicht fasse, aber dass ich fast sicher weiss: Ich werde nicht zurückkehren. Ich kann nicht erzählen, dass Martin eigentlich verstorben ist. So sage ich: »Ich habe eine Tochter.«
    »Eine Tochter?«, echot sie. Früher, als Violet noch ein Kind war, habe ich Tante Sophie und Grossvater manchmal zusammen mit meiner Tochter besucht.
    »Wie geht es deiner Tochter?«, fragt sie.
    Das wüsste ich auch gern. So sage ich: »Es geht ihr gut. Sie ist Lehrerin.«
    »Lehrerin? Ja, ist sie denn erwachsen?«
    Ja, sage ich, Violet ist zweiunddreissig. Sie wohnt schon lange nicht mehr zuhause.
    »Aber es geht ihr gut?«, fragt die Tante.
    »Es geht ihr gut. Sie unterrichtet gern.« Ich vermute, dass das eine Lüge ist. Meine Tochter kommt an Weihnachten nach Hause. Und zu Kaspars Geburtstag. Zu ihrem oder meinem Geburtstag treffen wir uns irgendwo in Zürich. Sie hat mich nie in ihre Wohnung eingeladen.
    Die Tante meint, Lehrerin sei ein schöner Beruf. Er sei so vielseitig. Dem stimme ich zu. Sie trinkt ihren Tee schlürfend aus. Dann erklärt sie, sie sei nun müde. Sie wolle sich hinlegen. Ich sehe, wie sie sich mühsam erhebt, den Stuhl wieder an den Tisch schiebt und mit steifen Schritten zum Nebenzimmer geht. »Bist du noch da, wenn ich wieder wach bin?«
    Ich versichere ihr, dass ich bleibe. Beruhigt legt sie sich in das Bett, das ehedem Grossvaters Bett war.
    Ich trage das Teegeschirr in die Küche.
    Dort spüle ich die Tassen und den Milchkrug. Und anschliessend fülle ich den Ausguss mit heissem Seifenwasser und ertränke die Marmeladengläser darin. Nach einer halben Stunde stehen über fünfzig blank geputzte Gläser auf dem Abtropfbrett. Keine einzige Fliege ist mehr zu sehen. Ich poliere die Oberflächen in der Küche der Tante mit Putzessig; einen Rest davon habe ich in einem der Schränke gefunden, und nehme mir vor, noch ein scharfes Putzmittel zu kaufen und die Küche damit ein zweites Mal zu säubern.
    Und jetzt? Ich öffne die Türe zum Zimmer, in dem die Tante schläft, und sehe, dass sie noch nicht wach ist. Das schlafende Gesicht wirkt eingefallen, fast wie das einer Mumie. Ich könnte mich nun im Wohnzimmer auf einen der speckigen Lederstühle setzen und warten. Stattdessen mache ich etwas, was ich, seit ich ein Kind war, nicht mehr getan habe: Ich steige die Holztreppe hoch in den ersten Stock. Die Treppe kracht bei jedem meiner Schritte. Oben öffne ich die erste Türe, und dann passiert es:
    Ich sitze auf dem einen Bett in diesem Zimmer, meine Füsse berühren den Boden nicht, ich bin sechsjährig, und am Fenster lehnt meine grosse Schwester Leonie, sie ist neun. Sie ist schön, sie hat langes blondes Haar, das sie offen trägt; nur die Schläfenhaare sind hochgesteckt. Mir hat Mama Ponyfransen geschnitten, und ich habe eine Zahnlücke vorne. Wir sind bei unserem Grossvater in den Ferien. Grossvater hat Leonie eine Katze versprochen. Sie strahlt, sie erklärt mir, wie wir beide auf die Katze aufpassen werden – sie mehr, ich weniger, weil ich ja doch noch klein bin, kleiner als sie jedenfalls, aber natürlich nicht so klein wie Martin. Verglichen mit Martin, bin ich schon recht gross und vernünftig. Ich staune sie an, sie weiss alles. Das
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