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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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Tante versprochen, am nächsten Tag wieder bei ihr zu sein.
    Bevor ich einschlafe, nehme ich den Notizblock mit dem Logo des Hotels zur Hand. Auf das oberste Blatt schreibe ich MARTIN . Aber dann blättere ich um. Ich muss jetzt zuerst an die einzelnen Punkte denken, die ich erledigen soll. Also schreibe ich:
    Flugkarte
    Tante Sophie helfen
    Mein Geld
    Das Auto
    Kleider kaufen
    Neben »Kleider« quetsche ich ein »etc.« hinein. Ich kann ja nicht ständig in derselben Unterwäsche herumlaufen. Aber das ist, gemessen an den restlichen Punkten, das kleinste Problem. Martin hat gesagt: »Das schaffst du.« Wenn jemand, der tot war und wieder ins Leben zurückgekehrt ist, sagt, dass ich etwas schaffe, dann … dann schaffe ich es möglicherweise auch. Das ist so etwas wie eine Verpflichtung.
    Dennoch – auch wenn ich mir das immer wieder zur Beruhigung sage – schlafe ich lange nicht ein.

8.
    Am anderen Morgen beim Frühstück im Hotelrestaurant habe ich den Notizblock immer noch bei mir. Ich schaue mir die fünf Punkte an, während ich kleine Klumpen Rührei mit der Gabel aufspiesse und in den Mund befördere. »Kleider kaufen« ist einfach. Aber die anderen Punkte sind schwierig, ich habe Angst davor, sie anzugehen. Ich habe mich nie in diese Bereiche hineingewagt, sie waren Kaspars Distrikt und er hat darüber gewacht, dass ich keinen dieser Bereiche anrühre. Ich hole mir noch eine weitere Portion Rührei am Buffet. Und während ich sie Gabel für Gabel verzehre, beschliesse ich, mit »Tante Sophie helfen« zu beginnen, dieser Punkt ist nicht ganz so unüberwindbar schwierig wie die anderen. Dann verlasse ich das Hotelrestaurant. Wo soll ich anfangen? Wie soll ich anfangen? Zögernd gehe ich in die Hotelhalle.
    Ich lehne mich an eine Säule, am liebsten würde ich mich hinter ihr verstecken. Ich schaue von da der schwarzhaarigen Frau und dem hellblonden Mann hinter dem Empfangstresen zu, die immer neue Gäste abfertigen. Es ist dieselbe Dame, bei der ich mich vorgestern hier eingetragen habe, sie hat mir auch die Zimmerschlüssel gegeben und mir gesagt, sie würde mir jederzeit gerne helfen. Das sind nur Floskeln. Ich weiss das. Aber der grosse Zeiger der Uhr bewegt sich immer weiter. Ich bin ratlos; ich weiss nicht weiter.
    Vielleicht kann sie mir wirklich helfen?
    Ich gehe langsam zum Empfangstresen und blicke dieser Frau im blauen Kostüm so lange in die Augen, bis sie mich fragt, ob sie etwas für mich tun könne. Ich bin verlegen. Ich frage sie, ob sie mir ein Telefonbuch geben wolle. Und mit diesem Telefonbuch ziehe ich mich auf einen Sessel in der Lobby zurück. Ich suche unter »Altenpflege«, doch ich finde nichts. Ich suche unter »Haushaltshilfe«, aber auch diesen Begriff gibt es nicht im Verzeichnis. Was jetzt? Der grosse Zeiger der Uhr bewegt sich, ich habe Angst; ich muss eine Lösung finden, aber wie?
    Schliesslich bringe ich der Frau im blauen Kostüm das Telefonbuch zurück, und in dem Moment, da sie mit einem »Dankeschön!« das Buch entgegennimmt, besiege ich meine Angst, die mir wie ein Brocken im Hals steckt. Ich bitte die Frau hinter dem Tresen um Hilfe. Ich sage ganz einfach, dass ich jemanden suche, der meiner sehr alten Tante, die allein in ihrem Haus wohnt, beisteht. Die schwarzhaarige Dame im blauen Kostüm zieht ihre nachgestrichelten Augenbrauen zusammen und fragt: »Sie suchen
Home Care
?« Sie spricht diesen Begriff mit englischem Akzent aus. Ich nicke. Ich habe nicht gewusst, dass das so heisst. Sie tippt etwas auf die Tastatur, die vor ihr liegt (sie hat glänzend lackierte rosa Fingernägel), notiert dann eine Telefonnummer auf einen Zettel, den sie mir reicht, und meint, ich möchte doch vom Telefon in meinem Zimmer aus anrufen.
    Ich fahre mit dem Lift zu meinem Zimmer. Ich bin sehr erleichtert. Ich setze mich auf das Bett (es ist schön bezogen, es ist das Bett neben dem Bett, in dem ich geschlafen habe), zögere und wähle dann die Nummer auf dem Zettel. Die Stimme eines jungen Mannes (wie mir scheint) gibt mir Auskunft auf meine Fragen. Er sagt, sein Institut habe noch freie Kapazitäten. Auch er verwendet den Begriff »Home Care«. Gleich am Montagmorgen werde er eine Mitarbeiterin vorbeischicken, die in einem fachgerechten
Assessment
die Bedürfnisse meiner Tante feststellen werde. Warum »Assessment«?, denke ich. Warum »Home Care«? Warum englische Begriffe? Aber ich gebe mir Mühe, seine Sprache zu sprechen. Ich bitte ihn, ob er dieses
Assessment
nicht vorverschieben
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