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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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Grossmutter gestorben. Und mein Grossvater hat durchgesetzt, dass seine unverheiratete Tochter (sie war damals eine junge Frau, jünger als Violet – das ist meine Tochter – heute, stelle ich überrascht fest) in das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, zurückkehrte. Sie hat wieder dasselbe Zimmer bezogen, in dem sie früher gewohnt hat. Natürlich war meinem Grossvater Putzen oder Kochen nicht zuzumuten. Und wiederum – darin waren sich meine Eltern mit Tante Sophie und dem Grossvater einig – wäre es unsinnig gewesen, wenn er nochmals geheiratet hätte, nur damit er jemanden fürs Kochen und Putzen gehabt hätte. Mein Grossvater war noch ein recht junger Mann gewesen, damals, als seine Frau starb, wenig über fünfzig war er, und wenn meine Eltern seinen Entschluss, nicht mehr zu heiraten, erwähnten, so deuteten sie diesen Entschluss immer als Zeichen seiner Liebe zu seiner verstorbenen Frau. Tante Sophie, die bis dahin als Sekretärin gearbeitet hatte, arbeitete auch weiter in diesem Beruf, aber nur noch zu fünfzig Prozent, denn schliesslich musste sie sich nun um das Wohlergehen des Grossvaters kümmern.
    Jetzt ist Tante Sophie gestorben, und ich werde heute zu ihrer Beerdigung gehen. Martin hat gestern angerufen, er hat mir das mitgeteilt.
    Im Moment, da ich diesen Gedanken denke, weiss ich, dass etwas geschehen ist, was ausserhalb der Gesetze der Realität liegt. Ich fahre zusammen.
    MARTIN IST TOT . Er ist seit drei Jahren tot. Ich habe seine Todesanzeige selber verfasst, ich habe sie bezahlt, und ich bewahre sie in der Bibel auf, die sich (links oben) im Büchergestell in dem Haus befindet, das ich gestern verlassen habe. Kein Sarg, keine Beerdigung, aber eine amtliche Erklärung und eine Todesanzeige. Martin ist seit drei Jahren tot, wie ist es möglich, dass er anruft? Ein ganz normales Gespräch – natürlich nicht normal, weil ich so geweint habe, weil ich aufgehängt, ihn abgeklemmt habe, aber er hat völlig normal geklungen. Mein Spiegelbild mir gegenüber gleicht mir ganz und gar, aber das ist kein Beweis dafür, dass etwas Übernatürliches passiert ist. Wahrscheinlich war ich gestern so ausser mir, dass ich mir das Telefongespräch eingebildet habe.
    Ich stehe auf, gehe ins Bad. Ich dusche, ich gehe nach unten und frühstücke, und unentwegt beschäftigt mich der Gedanke an das gestrige Telefongespräch: Habe ich es mir eingebildet? Hat sich jemand einen Scherz erlaubt, indem er vorgegeben hat, Martin zu sein?
    Im Park des Hotels steht unter einer Blutbuche mit weit ausgestreckten Armen eine Holzbank. Nach dem Frühstück sitze ich da mit dem Notizblock, auf dem ich meine Fragen notiert habe. Vor mir liegt ein kleiner, fast ganz mit Seerosenblättern bedeckter Teich. Den Horizont bildet das Hotel, ein roter Backsteinbau. Es ist schön hier. Und ich empfinde – weit mehr noch als im Hotelzimmer – dass ich jetzt ausserhalb der Beziehungen und Verbindungen, die mich ausmachen, die mich bis gestern ausgemacht haben, existiere.
    Rasch entschliesse ich mich, um drei Uhr zur St. Jakobskirche in Schieren zu fahren. Ich werde meine Erinnerung ad absurdum führen. Eine Stockente landet mit vorgestrecktem Hals, gespannten Flügeln und gespreizten Schwimmfüssen zwischen den Seerosenblättern im Teich. Das Wasser platscht und der Vogel quakt.

5.
    Die St. Jakobskirche befindet sich am Rand des Städtchens. Sie ist klein, eher eine Kapelle, weiss verputzt, mit einem kleinen, mit schwarz gestrichenem Blech verkleideten Turm auf dem Dach, aus dem es heftig bimmelt. Der schmale Weg zur weiss gestrichenen Holztüre, die offen steht, ist mit eckig beschnittenem Buchsbaum gesäumt. Einige schwarz bekleidete Menschen stehen auf diesem Weg. Jetzt bewegen sie sich langsam zur offenen Kirchentüre. Ich habe Kaspars Auto auf einem Platz in der Nähe parkiert und mich sozusagen an die Kirche herangepirscht. Ich bin erstaunt, dass offenbar tatsächlich ein Begräbnis stattfindet. Tante Sophie ist gestorben. Sie muss weit über achtzig gewesen sein.
    Ich schliesse mich den schwarzen Leuten an, die die kleine Kirche betreten. Ich bin verlegen, denn ich trage natürlich dieselben Kleider wie gestern. Als Angehörige sollte ich wahrscheinlich vorne sitzen. Aber unpassend gekleidet wie ich bin, setze ich mich in die hinterste Kirchenbank. Irgendwo fühle ich die unsinnige Hoffnung in mir, dass Martin auftaucht. Wenn das, was er am Telefon gesagt hat, wahr ist, so muss es doch auch wahr sein, dass er angerufen hat, dass
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