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Der rote Norden - Roman

Der rote Norden - Roman

Titel: Der rote Norden - Roman
Autoren: Franzisika Haeny
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weiter den Berg hoch, er stützt mich Schritt für Schritt. Jetzt ist es nicht mehr so schrecklich. Er hält Ausschau, er zeigt mir, wo ich hintreten kann. Doch auch so ist dieser Weg nach oben äusserst anstrengend, und auch so pocht mein Herz und ich höre meinen Atem rasseln. Manchmal sucht mein Blick, ob die Baumwipfel nicht verraten, dass die Spitze des Hügels bald erreicht ist. Stufe für Stufe, Schritt für Schritt kämpfe ich mich höher. Martin stützt mich und wenn ich rutsche, falle ich nicht hin, denn dann hält er mich.
    Auf einmal sind wir oben. Dieses »Oben« ist eine überschaubare Fläche, bedeckt mit niedrigen roten Preiselbeersträuchern. Schwarz-weisse Granitstücke, etwa so gross wie Menschenköpfe, liegen verstreut. Es windet. Ich schaue zu Martin. Er verzieht etwas den Mund. Ich gehe ein paar Schritte vorwärts; es ist so angenehm, nicht mehr steigen zu müssen. Wir überqueren die Kuppe des Hügels. Wir gehen langsam. Ich ziehe meine Jacke wieder an; der Wind kühlt. Dann stehen wir am Rand der Kuppe und blicken nach unten. Der weite Wald unter uns besteht vorwiegend aus Nadelhölzern. Nur ganz vereinzelt glänzen rote Birken zwischen den dicht stehenden bläulichen Föhren. An einer Stelle ist ein grosses Rechteck in den Wald hineingeschnitten worden. Ein flaches Gebäude mit flachem Dach ist zu sehen. »Ein Helikopterlandeplatz«, sagt Martin, der meinem Blick folgt.
    Vor diesem Gebäude laufen in die Richtung des Hügels, auf dem wir stehen, parallel etwa dreihundert Meter lange metallene Streifen, die in der Sonne glänzen. Martin macht mich auf einen fast unsichtbaren Zaun aufmerksam, der die Anlage umfängt und weit in den hinter dem Gebäude liegenden Wald hineinführt.
    »Da drin ist x«, sagt Martin. »Da müssen wir hinein.«

21.
    Ich schlucke, greife nach seiner Hand, zum Zeichen, dass ich den Abstieg beginnen will.
    Der Weg zum Fuss des Hügels ist nicht so schlimm wie der Weg hinauf. Ich setze einen Schritt vor den anderen. Martin hält mich. Ich sehe sogar Föhrenzapfen, Nadeln, trockene Birkenblätter, die sich auf dem kahlen Pfad, den wir hinabsteigen, befinden. Ich nehme die Sanftheit der zarten roten, von der Sonne durchschienenen Blätter an den schwarzen Zweigen wahr und die Bläue des Himmels.
    Dann sind wir unten. Eine dürre Heide erstreckt sich vor uns; farblose Gräser, einige unterschiedlich grosse Föhren wachsen hier. Ein Steg – zwei nebeneinandergelegte, dicke, graue Bretter, die auf quergelegte Bretter genagelt sind – führt hindurch. Offenbar ist der Boden hier früher nass gewesen. Wir gehen vorwärts auf dem Steg, wir gehen nebeneinander, aber Martin muss mich nun nicht mehr stützen. Unsere Sicht wird von einer schwarzen Mauer am Horizont begrenzt. Der Steg führt auf ein weisses Rechteck zu, das die schwarze Fläche unterbricht. Ich schaue zu Martin auf. »Das ist das Tor«, sagt er. »Das Eingangstor.«
    Langsam kommen wir dem Tor näher. »Wenn wir vor dem Tor sind«, sagt Martin, »musst du sagen, du willst Arbeit«.
    »Hat es eine Klingel?«, frage ich.
    »Ja«, sagt er.
    »Bist du schon mal dringewesen?«
    »Ja«, sagt er. Er ist ernst. »Ich habe am Tor gesagt, dass ich eine Reportage schreiben will.«
    »Und dann?«, frage ich. Sein Gesichtsausdruck beunruhigt mich.
    »Das Tor hat sich geöffnet. Aber ich denke, x hat mit mir gespielt. Ich bin bald wieder draussen gewesen.«
    Ich frage nicht, wie es war, da drinnen, ich werde es ja in Kürze sehen. Ich frage etwas anderes – diese Frage bedrückt mich, nachdem ich soeben die schwarze Mauer gesehen habe; beim Näherkommen erkenne ich, dass sie aus Stahl ist: »Du kommst doch mit, Martin?«, frage ich.
    Er nickt und berührt leicht meine Schulter. »Es ist
mein
Plan. Es ist
meine
Aufgabe.« Er atmet aus und wieder ein. »Ich muss das noch erledigen. Ich muss das noch in Ordnung bringen. Ich … ich … wenn du dabei bist, bin ich einfach nicht allein.« Ich lächle ihn an. Er ist aufgewühlt. Ich sehe das nicht nur seinem Gesicht an. Sein Rücken zuckt.
    »Wir bringen es in Ordnung. Wir machen es zu zweit.« »Ja«, sagt Martin. Er lächelt jetzt auch. Er nimmt meine Hand. »Zu zweit schaffen wir es«, sagt er.
    Wenige Meter vor dem weissen Tor endet der Steg. Zwei Schritte noch, dann lasse ich Martins Hand los und gehe allein auf die Türe zu. Während ich gehe, zischt mir nochmals rasch durch den Kopf, was ich heute erlebt habe: das Frühstück, das seltsame Mittagessen, bei dem über
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