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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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der er gespannt und gierig nach dem Kranken blickte. »Geben Sie doch eine Antwort. Sie sind Christ. Sie wurden getauft.
    Sagen Sie, ich glaube mit Gewißheit, mit einer Kraft, die den Glauben eines schändlichen Massenmörders an die Materie übertrifft wie die Sonne an Licht einen armseligen Wintermond, oder auch nur: mit einer Kraft, die gleich ist der seinen, an Christus, der Gottes Sohn ist.«
    Im Hintergrund tickte die Uhr.
    »Vielleicht ist dieser Glaube zu schwer«, sagte Emmenberger, da Bärlach immer noch schwieg, und trat an des Alten Bett. »Vielleicht haben Sie 317
    einen leichteren, gewöhnlicheren Glauben. Sagen Sie: Ich glaube an die Gerechtigkeit und an die Menschheit, der diese Gerechtigkeit dienen soll.
    Ihr zuliebe und nur ihr zuliebe habe ich, alt und krank, das Abenteuer auf mich genommen, in den Sonnenstein zu gehen, ohne Nebengedanken an den Ruhm und an einen Triumph der eigenen Person über andere Personen. Sagen Sie doch dies, es ist ein leichter, anständiger Glaube, den man von einem heutigen Menschen noch verlangen kann, sagen Sie dies, und Sie sind frei. Ihr Glaube wird mir genügen, und ich werde denken, daß Sie einen gleich großen Glauben wie ich besitzen, wenn Säe dies sagen.«
    Der Alte schwieg.
    »Sie glauben mir vielleicht nicht, daß ich Sie freilasse?« fragte Emmenberger.
    Keine Antwort.
    »Sagen Sie es auf gut Glück hin«, forderte der Arzt den Kommissär auf. »Bekennen Sie Ihren Glauben, auch wenn Sie meinen Worten nicht trauen. Vielleicht können Sie nur gerettet werden, wenn Sie einen Glauben haben. Vielleicht ist dies jetzt Ihre letzte Chance, die Chance, nicht nur sich, sondern auch Hungertobel zu retten. Noch ist es Zeit, ihn anzuläuten. Sie haben mich und ich habe Sie gefunden. Einmal wird mein Spiel zu Ende sein, irgendwo wird einmal meine Rechnung nicht stimmen. Warum soll ich nicht verlieren?
    318
    Ich kann Sie töten, ich kann Sie freilassen, was meinen Tod bedeutet. Ich habe einen Punkt erreicht, von dem aus ich mit mir wie mit einer fremden Person umzugehen vermag. Ich vernichte mich, ich bewahre mich.«
    Er hielt inne und betrachtete den Kommissär gespannt. »Es ist gleichgültig«, sagte er, »was ich tue, eine mächtigere Position ist nicht mehr zu erreichen: sich diesen Punkt des Archimedes zu erobern ist das Höchste, was der Mensch erringen kann, ist sein einziger Sinn im Unsinn dieser Welt, im Mysterium dieser toten Materie, die, wie ein unermeßliches Aas, aus sich heraus immer wieder Leben und Sterben erzeugt. Doch binde ich — das ist meine Boshaftigkeit — Ihre Befreiung an einen lumpigen Witz, an eine kinderleichte Bedingung, daß Sie mir einen gleich großen Glauben wie den meinen vorweisen können. Zeigen Sie her! Der Glaube an das Gute wird doch wenigstens im Menschen gleich stark sein wie der Glaube an das Schlechte! Zeigen Sie her! Nichts wird mich mehr belustigen, als meine eigene Höllenfahrt zu verfolgen.«
    Nur die Uhr hörte man ticken.
    »Dann sagen Sie es der Sache zuliebe«, fuhr Emmenberger nach einigem Warten fort, »dem Glauben an Gottes Sohn zuliebe, dem Glauben an die Gerechtigkeit zuliebe.«
    Die Uhr, nichts als die Uhr.
    319
    »Ihren Glauben«, schrie der Arzt, »zeigen Sie mir Ihren Glauben!«
    Der Alte lag da, die Hände in die Decke verkrallt.
    »Ihren Glauben, Ihren Glauben!«
    Die Stimme Emmenbergers war wie aus Erz,
    wie Posaunenstöße, die ein unendliches, graues Himmelsgewölbe durchbrechen.
    Der Alte schwieg.
    Da wurde Emmenbergers Antlitz, das gierig nach einer Antwort gewesen war, kalt und entspannt. Nur die Narbe über dem rechten Auge blieb gerötet. Es war, als ob ihn ein Ekel schüttelte, als er sich müde und gleichgültig vom Kranken abwandte und zur Türe hinausging, die sich leise schloß, so daß den Kommissär die leuchtende Bläue des Raums umfing, in der nur die runde Scheibe der Uhr weitertickte, als sei sie des Alten Herz.
    320
    Ein Kinderlied
    So lag Bärlach da und wartete auf den Tod. Die Zeit verging, die Zeiger schoben sich herum,, deckten sich, strebten auseinander und kamen wieder zusammen, trennten sich von neuem. Es wurde halb ein Uhr, ein Uhr, fünf nach eins, zwanzig vor zwei, zwei Uhr, zehn nach zwei, halb drei. Das Zimmer lag da, unbeweglich, ein toter Raum im schattenlosen, blauen Licht, die Schränke voll mit seltsamen Instrumenten hinter Glas, in dem sich Bärlachs Gesicht und Hände undeutlich spiegelten.
    Alles war da, der weiße Operationstisch, das Bild Dürers mit dem
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