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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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kennt — eine geringe Möglichkeit, da ich die Subjekte, die ich mir aus Stutthof mit-nahm, in der Hand habe; doch, wie jeder Zufall, nicht ganz von der Hand zu weisen — oder einer, der mich von meinem Leben in der Schweiz vor zweiunddreißig her in ähnlicher Erinnerung hatte.
    Es gibt in dieser Zeit einen Vorfall, den ich als junger Student in einer Berghütte erlebt habe —
    oh, ich erinnere mich sehr genau —, es geschah vor einem roten Abendhimmel: Hungertobel war einer der fünf, die damals zugegen waren. Es ist daher anzunehmen, daß Hungertobel mich erkannte.«
    »Unsinn«, entgegnete der Alte bestimmt; das sei eine unberechtigte Idee, eine leere Spekulation, sonst nichts. Er ahnte, daß der Freund bedroht wa r, ja, in großer Gefahr schwebte, wenn es ihm nicht gelang, jeden Verdacht von Hungertobel ab-304
    zulenken, obgleich er sich nicht recht vorstellen konnte, worin denn diese Gefahr bestehe,
    »Fällen wir das Todesurteil über den armen alten Doktor nicht zu schnell. Gehen wir vorher zu ändern möglichen Indizien über, die gegen mich vorliegen, versuchen wir ihn reinzuwaschen«, fuhr Emmenberger fort, sein Kinn auf die verschränkten, auf der Lehne liegenden Arme gestützt.
    »Die Angelegenheit mit Nehle. Auch die haben Sie herausgefunden, Herr Kommissär, ich gratuliere, das ist erstaunlich, die Marlok hat es mir berichtet.
    Geben wir es denn zu: ich habe Nehle selbst die Narbe in die rechte Augenbraue hineinoperiert und die Brandwunde in den linken Unterarm, die auch ich besitze, um uns identisch zu machen, einen aus zwei. Ich habe ihn unter meinem Namen nach Chile geschickt und ihn — als der treuherzige Naturbursche, der nie Lateinisch und Griechisch lernen konnte, diese erstaunliche Begabung auf dem unermeßlichen Gebiet der Medizin, unserer Verabredung gemäß heimkehrte — in einem
    windschiefen, zerbröckelten Hotelzimmer im Hamburger Hafen gezwungen, eine
    Blausäurekapsel einzunehmen. C'est ca, würde meine schöne Geliebte sagen. Nehle war ein Ehrenmann. Er schickte sich in sein Schicksal —
    einige energische Handgriffe meinerseits will ich verschweigen — und täuschte den schönsten Selbstmord vor, den man sich denken kann.
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    Sprechen wir nicht mehr über diese Szene mitten unter Dirnen und Matrosen, die sich im nebligen Morgengrauen einer halbverkohlten und
    vermoderten Stadt abspielte, in die das dumpfe Hupen verlorener Schiffe melancholisch genug hineintönte. Diese Geschichte war ein gewagtes Spiel, das mir immer noch bitterböse Streiche spielen kann; denn was weiß ich schon, was alles der begabte Dilettant in Santiago trieb, welche Freundschaften er da unterhielt und wer plötzlich hier in Zürich erscheinen könnte, Nehle zu besuchen. Doch halten wir uns an die Tatsachen.
    Was spricht gegen mich, falls jemand auf diese Spur kommt? Da ist vor allem Nehles ehrgeiziger Einfall, in die Lancet und in die Schweizerische medizinische Wochenschrift Artikel zu schreiben; er könnte sich als ein fatales Indizium erweisen, falls es sich jemand einfallen ließe, stilistische Vergleichungen mit meinen einstigen Artikeln zu unternehmen. Nehle schrieb gar zu hemmungslos berlinerisch. Dazu aber muß man die Artikel lesen, was wieder auf einen Arzt schließen läßt. Sie sehen, es steht schlecht um unseren Freund. Zwar ist er arglos, geben wir das zu seinen Gunsten zu.
    Doch wenn sich zu ihm noch ein Kriminalist gesellt, was ich anzunehmen gezwungen bin, kann ich für den Alten nicht mehr die Hand ins Feuer legen.«
    »Ich bin im Auftrag der Polizei hier«, antwortete der Kommissär ruhig. »Die deutsche Polizei 306
    faßte gegen Sie Verdacht und hat die Polizei der Stadt Bern beauftragt, Ihren Fall zu untersuchen.
    Sie werden mich heute nicht operieren, denn mein Tod würde Sie überführen. Auch Hungertobel werden Sie in Ruhe lassen.«
    »Elf Uhr zwei«, sagte der Arzt.
    »Ich sehe«, antwortete Bärlach.
    »Die Polizei, die Polizei«, fuhr Emmenberger fort und sah den Kranken nachdenklich an. »Es ist natürlich damit zu rechnen, daß sogar die Polizei hinter mein Leben kommen kann, doch scheint mir dies hier unwahrscheinlich zu sein, weil es für Sie der günstigste Fall wäre. Die deutsche Polizei, welche die Stadtpolizei Bern beauftragt, einen Verbrecher in Zürich zu suchen! Nein, das scheint mir nicht ganz logisch. Ich würde es vielleicht glauben, wenn Sie nicht krank wären, wenn es mit Ihnen nicht gerade auf Leben und Tod ginge: Ihre Operation und Ihre Krankheit sind ja
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