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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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nicht gespielt, das kann ich als Arzt entscheiden. Ebensowenig Ihre Entlassung, von der die Zeitungen berichten.
    Was sind Sie denn für ein Mensch? Vor allem ein zäher und hartnäckiger alter Mann, der sich ungern geschlagen gibt und wohl auch nicht gern abdankt.
    Die Möglichkeit ist vorhanden, daß Sie privat, ohne jede Unterstützung, ohne Polizei, gegen mich ins Feld gezogen sind, gewissermaßen samt Ihrem Krankenbett, auf einen vagen Verdacht hin, den Sie 307
    in einem Gespräch mit Hungertobel gefaßt haben, ohne einen wirklichen Beweis. Vielleicht waren Sie noch zu stolz, irgend jemand außer Hungertobel einzuweihen, und auch der scheint seiner Sache höchst unsicher zu sein. Es ging Ihnen nur darum, auch als kranker Mann zu beweisen, daß Sie mehr als die verstehen, welche Sie entlassen haben. Dies alles halte ich für wahrscheinlicher als die Möglichkeit, daß sich die Polizei zu dem Schritt entschließt, einen schwerkranken Mann in ein so heikles Unternehmen zu stürzen, um so mehr, als ja die Polizei bis zur Stunde im Falle des toten Fortschig nicht auf die richtige Spur kam, was doch hätte geschehen müssen, wenn sie gegen mich Verdacht gefaßt hätte. Sie sind allein, und Sie gehen allein gegen mich vor, Herr Kommissär.
    Auch den heruntergekommenen Schriftsteller halte ich für ahnungslos.«
    »Warum haben Sie ihn getötet?« schrie der Alte.
    »Aus Vorsicht«, antwortete der Arzt gleichgültig. »Zehn nach elf. Die Zeit eilt, mein Herr, die Zeit eilt. Auch Hungertobel werde ich aus Vorsicht töten müssen.«
    »Sie wollen ihn töten?« rief der Kommissär und versuchte, sich aufzurichten.
    »Bleiben Sie liegen!« befahl Emmenberger so bestimmt, daß der Kranke gehorchte, »Es ist heute Donnerstag«, sagte er. »Da nehmen wir Ärzte einen freien Nachmittag, nicht wahr.Da dachte ich, 308
    Hungertobel, Ihnen und mir eine Freude zu machen, und bat ihn, uns zu besuchen. Er wird im Wagen von Bern kommen.«
    »Was wird geschehen?«
    »Hinten in seinem Wagen wird mein kleiner Däumling sitzen«, entgegnete Emmenberger.
    »Der Zwerg«, schrie der Kommissär.
    »Der Zwerg«, bestätigte der Arzt. »Immer
    wieder der Zwerg, Ein nützliches Werkzeug, das ich mir aus Stutthof heimbrachte. Es geriet mir schon damals zwischen die Beine, dieses lächerliche Ding, wenn ich operierte, und nach dem Reichsgesetz des Herrn Heinrich Himmler hätte ich den Knirps als lebensunwert töten müssen, als ob je ein arischer Riese lebenswerter gewesen wäre!
    Wozu auch? Ich habe Kuriositäten immer geliebt, und ein entwürdigter Mensch gibt noch immer das zuverlässigste Instrument. Weil der kleine Affe spürte, daß er mir das Leben verdankte, ließ er sich aufs nützlichste dressieren.«
    Die Uhr zeigte elf Uhr vierzehn.
    Der Kommissär war so müde, daß er auf Mo-
    mente die Augen schloß; und immer wieder, wenn er sie öffnete, sah er die Uhr, immer wieder die große, runde, schwebende Uhr, Er begriff nun, daß es keine Rettung mehr für ihn gab. Emmenberger hatte ihn durchschaut. Er war verloren, und auch Hungertobel war verloren.
    »Sie sind ein Nihilist«, sagte er leise, fast flü-
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    sternd in den schweigenden Raum hinein, in welchem nur die Uhr tickte. Immerzu.
    »Sie wollen damit sagen, daß ich nichts
    glaube?« fragte Emmenberger, und seine Stimme verriet nicht die leiseste Bitterkeit.
    »Ich kann mir nicht denken, daß meine Worte irgendeinen ändern Sinn haben können«, antwortete der Alte in seinem Bett, die Hände hilflos auf der Decke.
    »Woran glauben Sie denn, Herr Kommissär?«
    fragte der Arzt, ohne seine Stellung zu verändern, und sah den Alten neugierig und gespannt an.
    Bärlach schwieg.
    Im Hintergrund tickte die Uhr, ohne Pause, die Uhr, immer gleich, mit unerbittlichen Zeigern, die sich ihrem Ziel unmerklich und doch sichtbar ent-gegenschoben.
    »Sie schweigen«, stellte Emmenberger fest, und seine Stimme hatte nun das Elegante und Spiele-rische verloren und klang klar und hell: »Sie schweigen. Ein Mensch der heutigen Zeit antwortet nicht gern auf die Frage: Was glauben Sie? Es ist unschicklich geworden, so zu fragen. Man liebt es nicht, große Worte zu machen, wie man
    bescheiden sagt, und am wenigsten gar eine bestimmte Antwort zu geben, etwa zu sagen: >Ich glaube an Gott Vater, Gott Sohn und Gott den Heiligen Geist«, wie einst die Christen
    antworteten, stolz, daß sie antworten konnten. Man 310
    liebt es heute, zu schweigen, wenn man gefragt wird, wie ein Mädchen, dem man eine peinliche
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