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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Frage stellt. Man weiß ja auch nicht recht, woran man denn eigentlich glaubt, es ist nicht etwa nichts, weiß Gott nicht, man glaubt doch — wenn auch recht dämmerhaft, als wäre ein Ungewisser Nebel in einem — an so etwas wie Menschlichkeit, Christentum, Toleranz, Gerechtigkeit, Sozialismus und Nächstenliebe, Dinge, die etwas hohl klingen, was man ja auch zugibt, doch denkt man sich immer noch: Es kommt ja auch nicht auf die Worte an; am wichtigsten ist es doch, daß man anständig und nach bestem Gewissen lebt. Das versucht man denn auch, teils indem man sich bemüht, teils indem man sich treiben läßt. Alles, was man unter-nimmt, die Taten und die Untaten, geschieht auf gut Glück hin, das Böse und das Gute fällt einem wie bei einer Lotterie als Zufallslos in den Schoß; aus Zufall wird man recht und aus Zufall schlecht.
    Aber mit dem großen Wort Nihilist ist man gleich zur Hand, das wirft man jedem anderen, bei dem man etwas Bedrohliches wittert, mit großer Pose und mit noch größerer Überzeugung an den Kopf.
    Ich kenne sie, diese Leute, sie sind überzeugt, daß es ihr Recht ist, zu behaupten, eins plus eins sei drei, vier oder neunundneunzig, und daß es unrecht wäre, von ihnen die Antwort zu verlangen, eins plus eins sei zwei. Ihnen kommt alles Klare stur vor, weil es vor allem zur Klarheit Charak-311
    ter braucht. Sie sind ahnungslos, daß ein entschlossener Kommunist — um ein etwas ausgefallenes Beispiel zu gebrauchen; denn die meisten Kommunisten sind Kommunisten wie die meisten Christen Christen sind, aus einem Mißverständnis
    — sie sind ahnungslos, daß so ein Mensch, der mit ganzer Seele an die Notwendigkeit der Revolution glaubt, und daran, daß nur dieser Weg, auch wenn er über Millionen von Leichen geht, einmal zum Guten führt, zu einer besseren Welt — viel weniger ein Nihilist ist als Sie, als irgendein Herr Müller oder Huber, der weder an einen Gott noch an keinen glaubt, weder an eine Hölle noch an einen Himmel, sondern nur an das Recht, Geschäfte zu machen — ein Glaube, den als Kredo zu postulie-ren sie aber zu feige sind. So leben sie denn dahin wie Würmer in irgendeinem Brei, der keine Entscheidung zuläßt, mit einer nebelhaften Vorstellung von etwas, das gut und recht und wahr ist, wie wenn es in einem Brei so etwas geben könnte.«
    »Ich hatte keine Ahnung, daß ein Henker zu einem so großen Wortschwall fähig ist«, sagte Bärlach. »Ich hielt Ihresgleichen für wortkarg.«
    »Brav«, lachte Emmenberger. »Der Mut scheint Ihnen wieder zu kommen. Brav! Ich brauche mu -
    tige Leute zu meinen Experimenten in meinem Laboratorium, und es ist nur schade, daß mein Anschauungsunterricht stets mit dem Tod des Schülers endet. Nun gut, sehen wir, was ich für 312
    einen Glauben habe, und legen wir ihn auf eine Waage, und sehen wir, wenn wir den Ihren auf die andere Schale legen, wer von uns beiden den größeren Glauben besitzt, der Nihilist — da Sie mich so bezeichnen — oder der Christ. Sie sind im Namen der Menschlichkeit, oder wer weiß was für Ideen, zu mir gekommen, um mich zu vernichten.
    Ich denke, daß Sie mir diese Neugierde nicht verweigern dürfen.«
    »Ich verstehe«, antwortete der Kommissär, der sich bemühte, die Furcht niederzuringen, die immer gewaltiger, immer bedrohlicher mit dem Fortschreiten der Zeiger in ihm aufstieg: »Jetzt wollen Sie Ihr Kredo herunterleiern. Es ist seltsam, daß auch Massenmörder ein solches haben.«
    »Es ist fünf vor halb zwölf«, entgegnete Emmenberger.
    »Wie freundlich, mich daran zu erinnern«, stöhnte der Alte, zitternd vor Zorn und Ohnmacht.
    »Der Mensch, was ist der Mensch?« lachte der Arzt. »Ich schäme mich nicht, ein Kredo zu haben, ich schweige nicht, wie Sie geschwiegen haben.
    Wie die Christen an drei Dinge glauben, die nur ein Ding sind, an die Dreieinigkeit, so glaube ich an zwei Dinge, die doch ein und dasselbe sind, daß etwas ist und daß ich bin. Ich glaube an die Materie, die gleichzeitig Kraft und Masse ist, ein un-vorstellbares All und eine Kugel, die man um-schreiten kann, abtasten wie einen Kinderball, auf 313
    der wir leben und durch die abenteuerliche Leere des Raums fahren; ich glaube an eine Materie (wie schäbig und leer ist es daneben, zu sagen: >Ich glaube an einen Gott<), die greifbar als Tier, als Pflanze oder als Kohle und ungreifbar, kaum be-rechenbar, als Atom ist; die keinen Gott braucht, oder was man auch immer hinzuerfindet, deren einziges unbegreifliches Mysterium ihr Sein
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