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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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mächtigen, erstarrten Pferd, die metallene Fläche Über dem Fenster, der leere Stuhl, mit der Lehne gegen den Alten gekehrt, nichts Lebendiges als das mechanische Ticktack der Uhr. Es wurde drei, es wurde vier. Kein Lärm, kein Stöhnen, kein Reden, kein Schrei, keine Schritte drangen zu dem alten Mann, der dalag auf einem metallenen Bett, der sich nicht rührte, kaum daß sich sein Leib hob und senkte. Es gab keine Außenwelt mehr, keine Erde, die sich
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    drehte, keine Sonne und keine Stadt. Es gab nichts mehr als eine grünliche runde Scheibe mit Zeigern, die sich verschoben, die ihre Stellung zueinander veränderten, die sich einholten, deckten, die auseinanderstrebten. Es wurde halb fünf, fünfundzwanzig vor fünf, dreizehn vor fünf, fünf Uhr, fünf Uhr eins, fünf Uhr zwei, fünf Uhr drei, fünf Uhr vier, fünf Uhr sechs. Bärlach hatte sich mühsam mit dem Oberkörper aufgerichtet. Er läutete einmal, zweimal, mehrere Male. Er wartete.
    Vielleicht konnte er noch mit Schwester Kläri reden. Vielleicht, daß ein glücklicher Zufall ihn retten konnte.
    Halb sechs. Er drehte seinen Leib mühsam herum. Dann fiel er. Lange blieb er vor dem Bett liegen, auf einem roten Teppich, und über ihm, irgendwo über den gläsernen Schränken, tickte die Uhr, schoben sic h die Zeiger herum, wurde es dreizehn vor sechs, zwölf vor sechs, elf vor sechs.
    Dann kroch er langsam gegen die Türe, schob sich mit den Unterarmen vor, erreichte sie, versuchte sich aufzurichten, nach der Klinke zu greifen, fiel zurück, blieb liegen, versuchte es noch einmal, ein drittes Mal, ein fünftes Mal. Vergeblich. Er kratzte an der Türe, da ihm das Schlagen mit der Faust zu mühsam wurde. Wie eine Ratte, dachte er. Dann lag er wieder unbeweglich, schob sich endlich ins Zimmer zurück, hob den Kopf, schaute nach der Uhr. Sechs Uhr zehn. »Noch fünfzig Minuten«, 322
    sagte er laut und deutlich in die Stille hinein/ daß er erschrak. »Fünfzig Minuten«. Er wollte ins Bett zurück; aber er fühlte, daß er die Kraft nicht mehr besaß. So lag er da, vor dem Operationstisch und wartete. Um ihn das Zimmer, die Schranke, die Messer, das Bett, der Stuhl, die Uhr, immer wieder die Uhr, eine verbrannte Sonne in einem bläulichen verwesenden Welt gebäude, ein tickender Götze, ein tackendes Antlitz ohne Mund, ohne Augen, ohne Nase, mit zwei Falten, die sich
    gegeneinanderzogen, die nun zusammenwuchsen
    — fünfundzwanzig vor sieben, zweiundzwanzig vor sieben —, die sich nicht zu trennen schienen, die sich nun doch trennten . . . einundzwanzig vor sieben, zwanzig vor sieben, neunzehn vor sieben.
    Die Zeit schritt fort, schritt weiter, mit leiser Erschütterung im unbestechlichen Takte der Uhr, die allein unbeweglich war, der ruhende Magnet.
    Es war zehn vor sieben.
    Bärlach richtete sich halb auf, lehnte sich gegen den Operationstisch mit dem Oberkörper, ein alter, sitzender, kranker Mann, allein und hilflos. Er wurde ruhig. Hinter ihm war die Uhr und vor ihm die Türe, auf die er starrte, ergeben und demütig, dieses Rechteck, durch das er treten mußte, er, auf den er wartete, er, der ihn töten würde, langsam und exakt wie eine Uhr, Schnitt um Schnitt mit den blitzenden Messern. So saß
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    er da. Nun war die Zeitin ihm, das Ticken in ihm, nun brauchte er nicht mehr hinzuschauen, nun wußte er, daß er nur noch vier Minuten zu warten hatte, noch drei, nun noch zwei: nun zählte er die Sekunden, die eins mit dem Schlagen seines Herzens waren, noch hundert, noch sechzig, noch dreißig. So zählte er, plappernd mit weißen, blutleeren Lippen, so starrte er, eine lebende Uhr, nach der Türe, die sich nun öffnete, nun, um sieben, mit einem Schlag: die sich ihm darbot als eine schwarze Höhle, als ein geöffneter Rachen, in dessen Mitte er schemenhaft und undeutlich eine rie -
    sige, dunkle Gestalt ahnte, doch war es nicht Emmenberger, wie der Alte glaubte; denn aus dem weitaufgerissenen, gähnenden Schlund dröhnte höhnisch und heiser dem Kommissar ein
    Kinderlied entgegen:
    »Hänschen klein
    ging allein
    in den großen Wald hinein«,
    sang die pfeifende Stimme, und im Rahmen der Türe, sie füllend, stand mächtig und breit, im schwarzen Kaftan, der zerfetzt an den gewaltigen Gliedern herunterhing, der Jude Gulliver.
    »Sei mir gegrüßt, Kommissar«, sagte der Riese und schloß die Türe. »Da finde ich dich nun wieder, du trauriger Ritter ohne Furcht und Tadel, der du
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    ausgezogen bist/ mit dem Geist das Böse zu be-kämpfen,
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