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Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Der Richter und sein Henker - Der Verdacht

Titel: Der Richter und sein Henker - Der Verdacht
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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sitzend vor einem Schrägen, der jenem ähnlich ist, auf dem ich einmal gelegen bin im schönen Dörfchen Stutthof bei Danzig.«
    Und er hob den Alten in die Höhe, daß der an des Juden Brust lag wie ein Kind, und brachte ihn ins Bett.
    »Hergenommen«, lachte er, wie der Kommissär immer noch keine Worte fand, sondern totenbleich dalag, und holte aus den Fetzen seines Kaftans eine Flasche mit zwei Gläsern-
    »Wodka habe ich keinen mehr«, sagte der Jude, als er die Gläser füllte und sich zu dem Alten ans Bett setzte. »Aber in einem verlotterten Bauern-haus irgendwo im Emmental, in einem Krachen voll Finsternis und Schnee, habe ich mir einige ver-staubte Flaschen von diesem wackeren Kartoffelschnaps gestohlen. Auch gut. Einem Toten darf man das nachsehen, nicht wahr, Kommissar. Wenn sich eine Leiche wie ich — eine Feuerwasserleiche gewissermaßen — ihren Tribut von den Lebenden in Nacht und Nebel holt, als Zwischenverpflegung, bis sie sich wieder in ihre Gräber bei den Sowjetern verkriecht, so ist das in Ordnung. Da, Kommissar, trink.«
    Er hielt ihm das Glas an die Lippen, und Bärlach trank.
    Es tat ihm gut, wenn er auch dachte, es sei wider gegen jede Medizin.
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    »Gulliver«, flüsterte er und tastete nach dessen Hand. »Wie konntest du wissen, daß ich in dieser verfluchten Mausefalle bin?«
    Der Riese lachte. »Christ«, antwortete er, und die harten Augen in seinem narbenbedeckten, wimpern- und brauenlosen Schädel funkelten (er hatte inzwischen einige Gläser getrunken). »Wozu ließest du mich denn sonst ins Salem kommen? Ich wußte gleich, daß du einen Verdacht gefaßt haben mußtest, daß vielleicht die unschätzbare
    Möglichkeit vorhanden war, diesen Nehle doch noch unter den Lebenden zu finden. Ich glaubte keinen Augenblick, es sei nur psychologisches In -
    teresse, das dich nach Nehle fragen lasse, wie du damals in dieser Nacht voll Wodka behauptet hast.
    Sollte ich dich allein ins Verderben rennen lassen?
    Man kann heute nicht mehr das Böse allein bekämpfen, wie die Ritter einst allein gegen irgendeinen Drachen ins Feld zogen. Die Zeiten sind vorüber, wo es genügte, etwas scharfsinnig zu sein, um die Verbrecher, mit denen wir es heute zu tun haben, zu stellen. Du Narr von einem Detektiv; die Zeit selbst hat dich ad absurdum geführt! Ich ließ dich nicht mehr aus den Augen und bin gestern in der Nacht dem braven Doktor Hungertobel leibhaftig erschienen. Ich mußte ordentlich arbeiten, bis ich ihn aus seiner Ohnmacht heraus-brachte, so fürchtete er sich. Doch dann wußte ich, was ich wissen wollte, und nun bin ich da, um 326
    die alte Ordnung der Dinge wiederherzustellen.
    Dir die Mäuse in Bern, mir die Ratten von Stutthof. Das ist die Teilung der Welt.«
    »Wie bist du hergekommen?« fragte Bärlach leise.
    Des Riesen Antlitz verzog sich zu einem Grinsen. »Nicht unter irgendeinem Sitz der SBB versteckt,, wie du denkst«, antwortete er, »sondern im Wagen Hungertobels.«
    »Wirklich, er lebt?« fragte der Alte, der sich endlich in die Gewalt bekam, und starrte den Juden atemlos an.
    »Er wird dich in wenigen Minuten ins alte, gewohnte Salem zurückführen«, sagte der Jude und trank in mächtigen Zügen den Kartoffelschnaps.
    »Er wartet vor dem Sonnenstein inzwischen in seinem Wagen.«
    »Der Zwerg«, schrie Bärlach totenbleich in der plötzlichen Erkenntnis, daß der Jude von dieser Gefahr ja nichts wissen konnte. »Der Zwerg! Er wird ihn töten!«
    »Ja, der Zwerg«, lachte der Riese schnapstrin-kend, unheimlich in seiner wilden Zerlumptheit, und pfiff mit den Fingern seiner rechten Hand schrill und durchdringend, wie man einem Hund pfeift. Da schob sich die Metallfläche über dem Fenster in die Höhe, affenartig sprang ein kleiner schwarzer Schatten mit einem tollkühnen Über-schlag ins Zimmer, unverständliche gurgelnde 327
    Laute ausstoßend, glitt blitzschnell zu Gulliver und sprang ihm auf den Schoß, das häßliche, greisenhafte Zwergengesicht an des Juden zerfetzte Brust gepreßt, dessen mächtigen haarlosen Schädel mit den kleinen verkrüppelten Ärmchen um-schlingend.
    »Da bist du ja, mein Äffchen, mein Tierchen, mein kleines Höllenmonstrum«, herzte der Jude den Zwerg mit singender Stimme, »Mein armer Minotaurus, mein geschändetes Heinzelmännchen, der du so oft in den blutroten Nächten von Stutthof weinend und winselnd in meinen Armen eingeschlafen bist, du einziger Gefährte meiner armen Judenseele! Du mein Söhnlein, du meine Alraun-wurzel. Belle, mein
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