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Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte

Titel: Der Richter aus Paris - Eine fast wahre Geschichte
Autoren: Ulrich Wickert
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am Hang des Mont Pelee von Eric erfahren, weshalb er dann unter dem Namen des Vaters weiterlebte. Es schien ihm die einzige Möglichkeit, ein freier Mensch zu werden. Das Sterbehaus, in dem er seinen Vater vom Tisch genommen und gerettet hatte, ging ihm nie aus dem Kopf. Wenn Eric sich Gilles nannte, lebte der Vater weiter. Vielleicht faszinierte ihn deshalb der Cohe.
    Aber es gab noch einen anderen Grund: Eric konnte sich nicht vorstellen, in Frankreich in der Eliteschule die Ausbildung zum hohen Beamten zu absolvieren, so als wäre nichts geschehen. Versehen mit der Identität von Vater Gilles dagegen brauchte Sohn Eric keine bürgerliche Karriere aufzubauen. Als Gilles, der als hoher Beamter einen großen Ruf erlangt hatte, konnte Eric dessen beneidenswerte Karriere beenden und, von allen hoch geachtet und gesegnet mit einer guten Staatspension, in Ruhe leben, fern des Pariser Kampfes um Macht und Positionen.
    Amadee sagte, Eric habe mit ihr über diese Probleme nur offen geredet, als sie noch ein junges Mädchen war. Er war und blieb ein unglücklicher Mensch, der sich erwachsenen Menschen gegenüber verschloss. Je älter sie wurde, desto mehr wuchsen sie zusammen, wurden Mann und Frau, doch Eric sprach nie mehr über seine Seelenqualen. Die frühen Spaziergänge hatten eine Vertrautheit zwischen ihnen geschaffen, die Amadee mit keinem anderen Menschen je geteilt hatte. Bis jetzt.
    In einer Zeitung hatte Gilles-Eric von den Angriffen auf Freddy Bonfort, inzwischen Professor in Lyon, gelesen. Da habe ihn die gleiche Wut gepackt wie später bei LaBrousse, als er drohte, den General zu erschießen. Als junger Mann war Eric, der bei seinen Großeltern in der Tourraine aufwuchs, häufig auf der Jagd gewesen, und schon damals galt er als hervorragender Schütze. So habe er auf der Habitation Alize nur ein paar Wochen trainiert, sei nach Frankreich geflogen und zwei Wochen später wiedergekommen.
    »Mit seinem Gewehr!«, warf Jacques ein.
    »Die klügsten Leute machen die dümmsten Fehler!«, rief Amadee halb entsetzt, halb lachend. »Aber Eric wirkte wie erlöst und wurde zunehmend ausgeglichener, ja ruhiger. Einmal hat er mir lächelnd gesagt: Jetzt könnte er sich eigentlich wieder Eric nennen.«
    Nach seiner Rückkehr aus Frankreich hat er die Insel Martinique nie mehr verlassen, nicht mehr Zeitung gelesen, Radio und Fernsehen seinem Vorarbeiter geschenkt, das Telefonkabel mit einer Schere durchschnitten und sich nur noch der Natur, dem Malen und dem täglichen Leben auf seiner Pflanzung gewidmet. Noch liebevoller als bisher kümmerte er sich um jeden seiner Leute, so als wären sie Familienmitglieder. Jetzt fühlte er sich frei, wenn ihn nicht körperliche Qualen oder Alpträume einholten.
    »Der Cohe hat Gilles' Seele eingefangen«, sagte Amadee, »und wiedergebracht. Für Eric. Erinnerst du dich? Als Vogel der Finsternis fängt der Cohe im Flug die Seele eines Sterbenden und bringt sie einmal zurück. Gilles - verzeih, für mich bleibt Eric Gilles - machte sich nach dem letzten Besuch bei LaBrousse daran, den Cohe noch einmal zu malen, diesmal als Todesvogel. Vielleicht ahnte er, dass sein Atem bald fliehen würde und der Cohe ihn nicht mehr zurückbringen könnte.«
    Amadee ging zur offenen Verandatür und blickte auf die vom Mond erleuchteten Hügel.
    »Er hat sein Leben lang unter den Folgen des vietnamesischen Lagers gelitten«, sagte sie. »Nieren, Milz, Leber waren zerstört. Vater Gilles wäre jetzt Mitte neunzig, Eric war, als er vom Pferd fiel und starb, nicht einmal siebzig. Das ist heute kein Alter, aber er wurde schon seit einigen Jahren immer schwächer. Vielleicht wollte er gehen. Es würde mich nicht wundern, wenn er das Unglück herbeigeführt oder herbeigesehnt hätte.«
    In der Ferne hörte Jacques Trommeln, er erhob sich, atmete tief ein und trat an Amadee vorbei auf die Veranda.
    Amadee fragte ihn: »Möchtest du noch etwas trinken? Einen Whisky?«
    »Hast du einen?«
    »Ich habe meine Ermittlungen angestellt: Johnny Walker?«
    »Einen Daumen hoch und nur mit zwei Eiswürfeln. Na, vielleicht drei, weil es hier so heiß ist.«
    Während Amadee im Haus verschwand, schritt Jacques die drei Holzstufen hinunter und steuerte auf das Gatter an der Koppel zu. Das Trommelgeräusch war verstummt, wie kleine flackernde Lichter leuchteten hier und da Holzfeuer auf. Die Grille hatte ihr grässliches Schaben eingestellt. Frösche quakten breitmäulig. Ein Vogel rief. Er lauschte, aber der Klang ähnelte
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