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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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Stefan Treysa. Deine Vergangenheit ist wichtig, Gabriel. Du musst dich dafür interessieren.
    »Nein«, sagte er. »Vielen Dank, aber ich werde das nicht lesen.« Und er sah zu, wie Gritz den Stapel wieder in seiner Tasche verstaute.
     
    Sie betraten das Gebäude. Tretjak folgte Gritz nach links auf eine Panzerglasschleuse zu. Sie mussten eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen über sich ergehen lassen: Röntgencheck wie am Flughafen, Metalldetektor, Ausfüllen von zwei Formularen, Abgabe von losen Gegenständen. Gritz sprach währenddessen weiter. Tretjak wusste, wie mühsam es sein konnte, Informationen zusammenzutragen, und er hatte den Eindruck, Gritz wollte ein bisschen glänzen mit dem, was er alles wusste.
    Nora Krabbe, erfuhr Tretjak, war bei ihrem Vater, dem Hals-Nasen-Ohren-Arzt Martin Krabbe, aufgewachsen. Keine Geschwister. Und auch keine Mutter. Nach Recherchen der Polizei hatte Vater Krabbe die Mutter, eine Ukrainerin, unmittelbar nach Noras Geburt mit Geld abgefunden. Als junges Mädchen war Nora Krabbe in eine Testreihe des bayrischen Kultusministeriums geraten, die sich mit Hochbegabungen beschäftigte. Am Ende dieser Testreihe wurde ihr ein extrem hoher IQ bescheinigt und eine Art Superbegabung, die besonderer Förderung bedürfe. Tatsächlich war ihr Ergebnis das beste in ganz Bayern. Die Testreihe, so führte Gritz aus, sei allerdings wohl ziemlich fragwürdig gewesen. Man habe sie nie wiederholt.
    »Es war eine Zeit, in der man glaubte, Hochbegabte identifizieren und erforschen zu müssen. Es gab die These, das Bildungssystem planiere solche Superbegabungen platt und müsse geändert werden.«
    »Ja«, antwortete Tretjak, »die Konsequenzen kann man bis heute besichtigen. Jede Mutter, deren Kind Probleme macht, vermutet, es sei hochbegabt.«
    Er musste an Lars Poland denken. War diesem Gritz eigentlich klar, dass hier, im Haus 10, in einem anderen Trakt zwar, aber im Haus 10, noch eine zweite Person eingesperrt war, die in Verbindung mit dem Fall stand?
    Sie standen jetzt am Anfang eines langen Ganges, von dem rechts und links mehrere breite weiße Stahltüren abgingen. Sie sollten auf einen Beamten warten.
    »Ist sie denn in einem Zustand …«, Tretjak suchte nach dem richtigen Wort, »… einem Zustand der Vernehmungsfähigkeit?«
    Rainer Gritz schien ebenfalls zu überlegen, mit welcher Formulierung er antworten sollte: »Ich würde so sagen: Sie
war
zeitweise in so einem Zustand. Über die Vernehmungen gibt es diverse Protokolle, die noch mal einiges erhellt haben, vor allem über die Taten, ganz konkrete Dinge.«
    Gritz sprach vom perfekten Umgang mit dem Stilett, den sie von ihrem Vater gelernt hatte, von Kerkhoffs Leiche, die sie an einer Autobahnraststätte von ihrem Kofferraum in den Pferdetransporter umgeladen hatte, Zufall sei das gewesen. Es habe ihr gefallen, was auf dem Transporter außen zu lesen gewesen war:
Nu Pagadi
. Na warte. Bisschen Russisch konnte sie ja. Gritz redete davon, dass Nora Krabbe unmittelbar vor dem Ausflug an die Isar in Tretjaks Wohnung gewesen war und die Putzfrau ermordet hatte. Aber Tretjak interessierte etwas anderes. Er sah den Beamten an.
    »Was heißt das: Sie
war
in einem vernehmungsfähigen Zustand?«
    Gritz blickte auf den Boden. »Was Sie jetzt sehen werden, wird Sie etwas erschrecken, Herr Tretjak.« Er räusperte sich. »Frau Krabbe hat sich vor zwei Wochen mit dem Speisemesser beide Augen ausgestochen.«
    Tretjak fühlte nichts. Er sah den Gang, er sah die Türen, er sah einen Sicherheitsbeamten in hellblauer Uniform von der anderen Seite des Ganges gemächlich auf sie zukommen. »Warum hat sie das getan?«
    »Das wissen wir nicht. Sie ist seither in einer aggressiven Verfassung, in der sie sich sogar dem Gespräch mit den Psychologen entzieht. Erschrecken Sie nicht, sie trägt eine schwarze Augenbinde, und auch sonst sieht sie verändert aus, die Medikamente, Sie verstehen.«
    Sie hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und folgten dem Beamten bis zur vorletzten Tür links. Der Mann sperrte die Tür auf und ließ sie eintreten. Er selbst blieb im Gang und sperrte hinter ihnen die Tür wieder zu.
    »Verschwinde, Gabriel«, sagte Nora Krabbe.
    Tretjak sah Gritz verdutzt an, er hatte noch kein Wort gesprochen. War sie wirklich blind?
    »Ich kann dich riechen«, sagte Nora, als hätte sie seine Verblüffung bemerkt. »Verschwinde«, wiederholte sie.
    Ihre Haare waren abrasiert, vermutlich wegen der Augenverletzung. Sie wirkte seltsam
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