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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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an diesem Ort. Bis die Angelegenheit geregelt war. So hatte Tretjak einiges über Panzernashörner gelernt. Sie reagierten empfindlich auf kleinste Veränderungen in ihrer Umgebung, wurden sofort misstrauisch und unberechenbar. Das hatten sie gemeinsam mit fast allen Tieren: Veränderungen bedeuteten Gefahr. Gabriel Tretjak wusste, dass es bei Menschen nicht anders war. Auch bei ihnen weckten Veränderungen die Wachsamkeit, er hatte sich das oft zunutze gemacht. Aber im Unterschied zu Panzernashörnern mussten es für Menschen größere Veränderungen sein. Wenn es sich nur um Kleinigkeiten handelte, um geringe Abweichungen vom Gewohnten, die den Fluss der Dinge nicht wirklich durcheinanderbrachten, blieben die Menschen schläfrig, gutmütig, fast einfältig. Sie interpretierten diese Kleinigkeiten falsch und begriffen ihre tatsächliche Bedeutung erst später. Manchmal lagen zwischen der falschen Wahrnehmung und dem Begreifen nur ein paar Minuten, manchmal Jahrzehnte.
    Der Kellner fragte ihn, ob er auch etwas zu essen wünsche. Tretjak verneinte. Er hatte bereits eine Reservierung für 21 Uhr im Restaurant, das ums Eck des Foyers lag und dessen Tische schon weiß eingedeckt waren.
    Tretjak war sich ziemlich sicher, dass der Mann, auf den er in der Hotelhalle wartete, eine kleine Veränderung am heutigen Tag falsch einschätzte. Die Tatsache nämlich, dass ihn seine Ehefrau noch nicht angerufen hatte. Nach allem, was Tretjak inzwischen über ihn wusste, war dem Mann vielleicht nicht einmal aufgefallen, dass das übliche Telefonat nicht stattgefunden hatte – obwohl es eine feste Gewohnheit war, wenn er auf Geschäftsreisen war. Nun ja, es würde nicht mehr lang dauern, dann würde er die Bedeutung dieser Änderung erkennen.
    Tretjak sah auf die Uhr, es war Viertel vor acht. Plötzlich befiel ihn wieder das Gefühl, das ihn in letzter Zeit öfters heimgesucht hatte. Eine Art von Müdigkeit, ein Gefühl des Überdrusses. Früher hatte er genau diese Momente genossen, diese Momente vor der Zuspitzung, diese Annäherung an einen dramatischen Wendepunkt im Leben eines anderen Menschen, der davon noch nichts ahnte. Aber seit ein paar Wochen ertappte er sich bei dem Wunsch, diesen Moment vorübergehen zu lassen – ohne einzugreifen.
    Tretjak saß mit seinem Gin Tonic im Foyer des Hotels
New Oriental
in Galle, der Hafenstadt im Südwesten von Sri Lanka. Er hatte einen elfstündigen Flug hinter sich – Lufthansa LH 2016, München–Colombo – und eine vierstündige Autofahrt. Der kleine, schweigsame Fahrer hatte seinen Peugeot geschmeidig wie ein Motorboot über riesige Schlaglöcher und zwischen Eselsfuhrwerken, Tuk-tuk-Schwärmen und nicht verkehrssicheren Lkws hindurchgesteuert. In ein paar Stunden würde ihn der Fahrer denselben Weg wieder zurückfahren, zurück zum Flughafen Colombo, zu Flug LH 2017, der im Morgengrauen nach München abhob. Tretjak war nur für diesen einen Abend gekommen – um einen Menschen aus seiner Schläfrigkeit zu reißen.
    Es war heiß in der Hotelhalle. Die alten hölzernen Ventilatoren an der Decke kreisten müde vor sich hin. Einer quietschte, er hing direkt über dem schwarzen Piano im linken Bereich der Halle, wo sich auch die Bar befand. Eine Gruppe von drei Engländern hielt sich dort auf, jeder hatte einen Cocktail vor sich, gelegentlich stieß einer von ihnen eine merkwürdige Salve von kurzen Zischlauten aus, wenn ihn etwas belustigte.
    Jetzt trat ein bulliger Mann in Khakihosen und einem grünen Ralph-Lauren-Poloshirt durch die breite, offenstehende Eingangstür. Er schwitzte, sein Gesicht war gerötet, er trug eine Pilotensonnenbrille. Zielstrebig schritt er auf die Rezeption zu und sagte mit einer tiefen lauten Stimme und leichtem deutschen Akzent: »Room number seven, please.«
    Tretjak hatte sich erhoben und trat seitlich hinter den Mann, in zwei Metern Abstand. »Glückwunsch, Herr Schwarz«, sagte er. »Die Sieben ist das beste Zimmer hier.«
    Der Mann drehte sich um, schob seine Sonnenbrille in die Stirn, musterte Tretjak aus fragenden blauen Augen.
    »Genießen Sie Ihren kleinen Urlaub, Herr Schwarz?«, fragte Tretjak.
    Dem Mann war jetzt deutlich anzusehen, wie er sein Gedächtnis durchforstete. Kannte er diesen Fremden von irgendwoher? »Ja, das tue ich«, antwortete er schließlich, »darf ich fragen –«
    »Wir müssen reden, Herr Schwarz«, unterbrach Tretjak. »Ich habe im Restaurant einen Tisch bestellt. 21 Uhr.«
    »Ich wüsste nicht …« Der Mann
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