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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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aufgedunsen, bestimmt zehn Kilo schwerer als früher. Die schwarze Binde über beide Augen ließ sie hilflos wirken. Plötzlich stand sie auf, zog sich das Hemd über den Kopf, warf es hinter sich und griff an ihre Brüste. Mit absichtlich verstellter kindlicher Stimme sagte sie: »Oder wollen Sie vielleicht ein bisschen Ball spielen?«
     
    Als sie wieder draußen waren in dem schönen Park, fragte sich Tretjak, ob man das Schreckliche wirklich besser ertragen konnte, wenn man es mit Bäumen und Blumen schmückte. Der Kriminalbeamte Rainer Gritz fragte sich andere Dinge, und er sprach sie auch aus. Zum Beispiel, dass noch immer ungeklärt war, wer den Bankbeamten Borbely getötet hatte. Man ging inzwischen von einem Racheakt in der Drogenszene aus. Tretjak dachte an Charlotte Poland. An die Szene, in der sie so verzweifelt gewesen war, einem Zusammenbruch nahe, in der sie ihm alles erzählt hatte, auch von diesem Borbely. Und ihn schließlich gefragt hatte: »Können Sie mir nicht helfen?«
    Sie mussten stehen bleiben, um ein kleines Gefährt vorbeizulassen, das die Wege kehrte. Tretjak spürte, dass Gritz ihn genau ansah. Früher hatte er manchmal, ohne es zu wollen, einen verräterischen, wissenden Zug um den Mund gezeigt, doch vor ein paar Jahren hatte er ihn sich mit Hilfe eines Mimikexperten abtrainiert. Gut so, dachte er jetzt.
    »Eines interessiert mich noch, Herr Tretjak«, sagte Gritz. »Sie wussten ja schon
vor
dem schicksalhaften Geschehen in Maccagno, dass Ihre Freundin hinter den Morden steckte. Wie haben Sie das herausgefunden?«
    In der Tasche seines Kaschmirmantels spürte Tretjak das Fläschchen mit den Rescue-Tropfen. Ein homöopathisches Mittel, Treysa schwor darauf. Tretjak hatte versprochen, dem Stoff eine Chance zu geben, wenigstens dem Placeboeffekt. Aber er wollte sich vor Gritz keine Blöße geben und ließ das Fläschchen in der Tasche.
    »Der angebliche Brief meines Vaters enthielt einen Fehler«, sagte er. »Einen entscheidenden Fehler.«
    Er erklärte Gritz, wie sein Vater immer allen ihre letzte Begegnung geschildert habe: Er, Gabriel, sei gegangen, ohne sich umzudrehen.
    Gritz nickte: »So steht es auch als Vorwurf in dem Brief.«
    »Aber so war es nicht«, sagte Tretjak. »Er war der Mann, der in der Tür stand. Ich war der, der gesagt hat: ›Oder gibt es noch etwas, womit wir unsere Geschichte ändern können?‹ Und er ist gegangen, ohne sich umzudrehen. Mir hätte er diese Szene nie falsch beschrieben.«
    Gritz blieb stehen und sah ihn an: »Aber dadurch wussten Sie doch nur, dass Ihr Vater nicht der Mörder war. Sie wussten noch nicht, dass es Frau Neustadt war, vielmehr Frau Krabbe.«
    Tretjak lächelte zu dem Zwei-Meter-Mann empor. »Sie sind ja auch draufgekommen, Herr Gritz. Lassen Sie mir die Gewissheit, in manchen Belangen schneller und besser zu sein als die Polizei.«
    Als sie wieder vorn am großen Tor waren, winkte Tretjak einem Taxi vom gegenüberliegenden Stand. Er erkannte denselben Fahrer von vorhin, er war offensichtlich in der Zwischenzeit auf die erste Warteposition vorgerückt. Der Mann trug einen Turban.
    Tretjak öffnete die hintere Wagentür und schüttelte dem Kriminalbeamten Gritz zum Abschied die Hand.
    »Sagen Sie«, fragte Tretjak, »was waren das für seltsame Verletzungen an ihrem Körper? Sie war ja übersät mit Schnitten.«
    »Ihre
Fehler
. Sie hat gesagt, sie führe jetzt ganz genau Buch über die Fehler, die sie gemacht hat«, antwortete Gritz. »Jeder Fehler ein Schnitt.«
    Sie habe das alles an einem Tag erledigt, erklärte er. Mit der Gabel. Messer habe sie ohnehin keins mehr bekommen. Jetzt würde sie auch keine Gabel mehr bekommen. Und sie habe immer von ihrem größten Fehler geredet, sagte Gritz noch. »Irgendwas mit einer roten Zipfelmütze.« Er sah Tretjak fragend an. »Sagt Ihnen das was?«
    Tretjak schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was sie meint.« Er stieg ins Taxi und schloss die Tür. Luigi hatte es verdient, in Ruhe gelassen zu werden.

13
    Der Typ mit der roten Zipfelmütze, der sich unten am Fährsteg für einen Augenblick in Nora Krabbes Blickfeld geschoben hatte, war im Grunde ein gemütlicher Mann. Luigi hieß er mit Vornamen, und so nannten ihn alle im Ort. Ein Tourist war er nicht. Er war der Wirt des Lokals direkt unten am Wasser, mit den großen Fenstern, durch die man den Lago Maggiore sah, tagsüber als glitzerndes Meer, nachts als schwarzes Nichts. Es war kein aufregendes Restaurant, aber die Ravioli waren gut, und
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