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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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paarmal gehört, die Uniform stünde ihm ausgezeichnet, sie mache etwas her, wie es hieß. Und Stella hatte ihn so kennengelernt. Er würde den Eindruck eines vielbeschäftigten Mannes machen, der grade von seiner Pflicht kam, das war bestimmt nicht verkehrt. Andererseits: Locker war das nicht. Vielleicht war es ja gerade attraktiv, nur in Jeans und einem frisch gebügelten weißen Hemd zu erscheinen, Botschaft: Schau, ich kann auch ganz anders sein.
    Facchettis Büro lag im Erdgeschoss des altehrwürdigen Gebäudes mit dem Adler aus Stein auf dem Giebel. Er blickte auf den Platz direkt davor, wo jetzt schon die gusseisernen Straßenlaternen brannten. Wenn er sich etwas vorbeugte, konnte er sogar den See sehen. Es war fast ganz dunkel draußen, seine Schreibtischlampe beleuchtete zwei Berichte von Kollegen, die er jetzt noch lesen konnte oder auch nicht. Morgen früh würde auch reichen. Ein Fahrraddiebstahl und ein Einbruch in ein Ferienhaus.
    Er sah zum wiederholten Male auf seine Uhr. Immer noch Viertel vor sieben. Er hätte schon gehen können, es waren genügend Kollegen in der Wachstube. Aber Mario Facchetti war ein korrekter Polizist. Und sein Dienst endete nun mal erst um sieben Uhr.
    Der Anruf, der die Abendgestaltung des Maresciallo grundlegend ändern sollte, kam um sechs Minuten vor sieben. Mario Facchetti war das letzte Glied in einer kleinen Kette von dringenden Anrufen: München–Mailand, Mailand–Varese, Varese–Luino. Facchetti hörte etwa drei Minuten zu, machte Notizen, stellte ein paar Fragen, machte wieder Notizen – und rief schließlich alle verfügbaren Kollegen in sein Büro. Wenig später setzten sich drei blaue Alfa Romeo in Bewegung, ihr Ziel war Maccagno, das Hotel
Torre Imperial
.
    In der Geschichte der Physik brachte ein bestimmtes Experiment die führenden Wissenschaftler in aller Welt lange Zeit schier zur Verzweiflung, da man einfach keine Erklärung für dessen Resultat fand. Egal, wie oft man das Experiment wiederholte, das Resultat blieb immer gleich. Man schoss ein Teilchen – ein Elektron – auf eine Bleiplatte mit zwei eng nebeneinander liegenden Schlitzen, um festzustellen, durch welchen der beiden Schlitze es flog. Zu diesem Zweck war hinter der Platte eine Art Fotoapparat angebracht. Was die Wissenschaftler verstörte, war das Ergebnis, das der Apparat zeigte: Das Elektron war durch beide Schlitze gleichzeitig geflogen. Doch ein Elektron kann sich nicht teilen! Erst die Quantenphysik fand eine Erklärung – die für viele das Rätsel aber nicht kleiner machte: Das Elektron, so die Quantenphysiker, ist gar kein Teilchen, sondern eine Wahrscheinlichkeitswelle. Was bedeutet, dass jedes Teilchen immer alle möglichen Wege gleichzeitig nimmt – nicht nur zwei, wie in dem Experiment, sondern unendlich viele.
    Da sowohl Maresciallo Mario Facchetti als auch die Geldbotin Stella Scipio aus Elektronen gebaut waren, kann man sagen: Es gab ihre Liebesgeschichte, in irgendeinem Wahrscheinlichkeitsraum nahm sie an diesem Abend ihren Anfang. Aber dokumentiert ist sie nicht. Die dokumentierte Wirklichkeit dieses Mittwochabends im Oktober war das blitzende Blaulicht der drei Fahrzeuge, die die Uferstraße des Lago Maggiore entlangjagten. Die Sirenen waren nicht eingeschaltet. Im ersten der Fahrzeuge saß Mario Facchetti. Er hatte ziemlich genaue Instruktionen erhalten. Von Luino nach Maccagno waren es nur sieben Kilometer. Im Tunnel vor dem Ortseingang gab Facchetti per Funk die Order, auch die Blaulichter auszuschalten.

9
    Tretjak hatte keine Angst mehr. Und er wusste, dass das nicht nur auf die zwei Tavor zurückzuführen war, die er vor Ankunft der Fähre geschluckt hatte. War sein Freund Stefan Treysa jemals in seinem Leben in einer vergleichbaren Situation gewesen? Psychologen. Die Stunde ist um. Bis zum nächsten Mal. Nein, das konnte man hier nicht sagen. Tretjak war ruhig und hatte keine Angst. Fiona war im Begriff, ihn und Charlotte mit Handschellen an die Heizung zu ketten. Sie tat das geschickt mit einer Hand, in der anderen hielt sie die Pistole. Einmal hatte sie ihm den Lauf zwischen die Augen an die Stirn gedrückt, ganz plötzlich, ziemlich grob, und dann hatte sie kurz gelacht. Tretjak hatte auch keine Angst vor der Pistole.
    So war es immer gewesen in seinem Leben. Wenn er genau wusste, was passieren würde, hatte er keine Angst. Schon als Kind war das so gewesen. Und jetzt wusste er sehr genau, was passieren würde.
    Unten, direkt neben dem Eingang des Hotels,
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