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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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dann würde ich gleich sie anrufen?«
    »Ja, wir haben immer die Nummer von den Angehörigen.« Sie blätterte in einem Karteikästchen und schrieb eine Handynummer auf einen Notizzettel. »Nora Krabbe heißt sie.«
    Es war ein Berufsreflex, der Maler fragen ließ, ob er kurz das Telefon hier auf dem Tisch benutzen könne. Er tippte die Handynummer ein.
    Es läutete ein paarmal, dann war sie dran.
    »Hallo?«
    Er erkannte sofort ihre Stimme. »Guten Tag«, sagte er, »hier spricht Kommissar Maler aus dem Krankenhaus. Guten Tag, Frau Neustadt, oder nein, Frau Krabbe, was ist jetzt der richtige Name? Und was ist der richtige Beruf?«
    Es klickte, und die Leitung war tot. Maler wählte noch einmal, wieder tot. Sie hatte das Handy ausgeschaltet. August Maler verabschiedete sich von der verdutzten Schwester Judith und ging zurück auf seine Station. Im Aufzug merkte er, wie ihm schwindlig wurde, nur für einen Moment. Er musste sofort Gritz anrufen. Als er zu seinem Zimmer kam, warteten schon zwei Ärzte und zwei Schwestern vor der Tür.
    August Maler wollte etwas zu seiner Entschuldigung sagen, aber er konnte nicht. Er hörte noch die aufgeregten Worte der Mediziner, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

5
    Charlotte Poland spürte, dass ihre Knie zitterten, als sie an der Rezeption im Hotel
Torre
stand. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie hörte nicht, was der Portier redete, schönstes Eckzimmer, Seeblick und so weiter. Sie hatte das Gefühl, die Luft um sie herum bestünde aus Watte. Alles war irgendwie gedämpft. Ihre linke Hand steckte immer noch in der Manteltasche und hielt das Telefon umklammert, auf dem vorhin die SMS eingegangen war. Es fühlte sich heiß an. Sie sah, dass Gabriel Tretjak in Richtung Fahrstuhl ging, sie hatte nicht die Kraft, ihm zu folgen. Aber als er sich umdrehte, sie aus seinen schwarzen Augen ansah und sagte »Komm«, hatte sie auch nicht die Kraft, ihm nicht zu folgen.
    Nichts ist dem menschlichen Gehirn so verhasst wie der bloße Zufall, also ein Ereignis, das nicht vorhersehbar ist. Deshalb sucht das Gehirn ständig nach verborgenen Regeln, Gesetzen und Botschaften. Das Unvorhersehbare ist gefährlich. Tritt es dennoch ein, setzt das Gehirn sofort Prioritäten und konzentriert sich ganz und gar auf die Verarbeitung dieses Ereignisses. Ein schrecklicher Anblick kann das zum Beispiel sein. Oder eine schlechte Nachricht. Shock-Novel-Reize nennen Forscher solche plötzlichen Ereignisse, die das Gehirn zu einem ungewöhnlichen Verhalten zwingen: Es schottet sich ab, jede neue Information wird ferngehalten – bis der ungewöhnliche Reiz verarbeitet ist. Mediziner wissen, dass Patienten, die eine Krebsdiagnose erfahren, danach nichts mehr aufnehmen können, auch später nichts mehr davon erinnern, was gesprochen wurde.
    Charlotte Poland hätte nicht sagen können, welche Farbe die Wände in diesem Hotel hatten, welche Beschaffenheit der Boden, ob es Bilder an den Wänden gab, einen Spiegel im Lift. Vermutlich hätte sie in diesem Moment nicht einmal die Frage beantworten können, warum sie hier war. Tretjaks Anruf, er wolle sie treffen, er habe einen neuen Plan, was ihren Sohn Lars betraf, war unendlich weit weg. Auch die Zeit im Sommer, als er Lars schließlich gefunden hatte, ihr immer wieder seine Hilfe angeboten hatte, als spüre er eine Nähe zu ihm – alles wie gelöscht. Ihr Gehirn war nur damit beschäftigt, die SMS zu verarbeiten, und verbat sich jede Ablenkung.
    Während Tretjak in seinem schwarzen Kaschmir-Mantel die Tür zu Zimmer 405 aufsperrte, das Licht anknipste, zu den Fenstern ging und die Vorhänge zuzog, während er sich, immer noch im Mantel, auf einen der beiden Sessel setzte, ein Stück Papier entfaltete und begann, ihr Fragen zu stellen, wiederholte Charlotte Polands Gehirn den Text der Nachricht. Wieder und wieder.
    Treffen Sie sich auf keinen Fall mit Gabriel. Ich habe etwas Furchtbares herausgefunden. Paul Tretjak war unschuldig. Ihr Leben ist in Gefahr. Glauben Sie Gabriel kein einziges Wort.
    Und Charlotte Polands Gehirn wiederholte auch wieder und wieder den Namen, mit dem die Nachricht unterschrieben war:
Fiona Neustadt.
    Die Einrichtung des Zimmers 405 bestand aus einem großen Bett, einem Kleiderschrank und einer kleinen Sitzecke mit zwei Sesseln. Das Bett war mit einer dunkelgrünen Tagesdecke abgedeckt. Der Schrank war aus dunkelbraunem Holz wie der Fußboden. Die Sessel waren ebenfalls dunkelgrün, die Wände ockerfarben, die Vorhänge
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