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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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ersten Mal auf, dass Nu Pagadi nervös wurde, unruhig. Er schnaubte, scharrte mit den Hufen, trippelte hin und her. Krug wurde auch nervös, denn Nu Pagadi war normalerweise die Ruhe selbst, auch auf den Fahrten. War die Fahrt diesmal einfach zu lang? Oder was war los?
    Krug kannte natürlich die Geschichten von den Marotten großer Rennpferde auf Reisen. Der französische Superhengst Ourasi war nur bereit, in einen Transporter zu steigen, wenn vor ihm eine kleine weiße Ziege in den Wagen ging. Andere gaben nur Frieden, wenn ein bestimmtes anderes Pferd mitreiste, der beste Freund sozusagen. Fing Nu Pagadi nun auch mit solchen Zicken an? Krug sah auf dem Bildschirm, dass sein Pferd von Minute zu Minute unruhiger wurde. Es war klar, dass er anhalten musste. In fünf Kilometern war der nächste Parkplatz angekündigt. Vielleicht hatte Nu Pagadi einfach Hunger. Für diesen Fall war er gerüstet. Krug hatte alle seine Leibspeisen dabei, Karotten, Bananen, seinen süßen Milchbrei.
    22,6 Kilometer nördlich vom Stadtzentrum Münchens war die genaue Lage des kleinen Parkplatzes, auf den Max Krug abbog. Was dort geschah, sollte er in seinem Leben nie mehr vergessen. Er würde dreieinhalb Monate später einen Psychologen aufsuchen, einen Trauma-Spezialisten, der ihm die Bilder dieser paar Momente auf dem Parkplatz aus dem Gehirn vertreiben sollte, die ihm seither den Schlaf raubten.
    Krug gab den Sicherheitscode ein, die Hintertür des Transporters öffnete sich, und er sah sofort die Decke, die dort nicht hingehörte, die er da nicht hingelegt hatte. Außer ihm konnte niemand an den Transporter. Krug hob die Decke und sah den Mann, brauner Anzug, weißes Hemd, kein Mantel. Der Mann lag auf dem Bauch, er bewegte sich nicht. Ein schlanker Mann mit Glatze. Krug dachte sofort, den Mann kenne ich nicht, das ist ein Fremder. Vielleicht denkt man das immer, wenn man einen Toten sieht. Tote sehen immer wie Fremde aus. Tote sollen so aussehen.
    Krug versuchte, den Puls zu fühlen. Aber es gab keinen Puls mehr. Dann machte Krug den Fehler, den Mann umzudrehen. Es war nur ein ganz klein wenig Blut zu sehen, unbedeutend wenig. Doch mit dem Gesicht war etwas passiert. Etwas Furchtbares. Immer wieder sprach Krug diese Szene später mit dem Therapeuten durch. Immer und immer wieder sollte er diesen Moment durchleben. Nur so, sagte der Therapeut, würden ihn die Bilder eines Tages wieder verlassen.
    An alles andere, was in den Stunden danach auf diesem Parkplatz geschah, konnte sich Krug später kaum erinnern. Die Polizei war irgendwann da, klar. Irgendwann auch ein zweiter Pferdetransporter, in den er Nu Pagadi am Zügel führte. Er musste wohl einen ziemlich erbärmlichen Eindruck hinterlassen haben, dachte Krug später, wie er allen um sich herum erklärt hatte, wie großartig und wertvoll dieses Pferd sei. Und das im Angesicht eines toten Menschen … Ach ja, an den Namen des Kommissars, der ihn verhörte, konnte er sich auch noch erinnern. Kaum an dessen Aussehen – außer, dass er eine auffallende Narbe auf der Wange hatte –, aber der Name war bei Krug hängengeblieben. Der Kommissar hieß Maler, August Maler, und Maler war der Name eines berühmten Rennpferds gewesen, das vor vielen Jahren das Deutsche Derby gewonnen hatte. Krug sagte seinem Therapeuten später, er hoffe sehr, dass er dem Kommissar das nicht auch noch mitgeteilt habe.
    Bei Nu Pagadi waren keinerlei Nachwirkungen zu verzeichnen. Krug ließ ihn untersuchen, man wusste ja nie. Aber alles war in Ordnung, physisch wie psychisch. Nur zwei Tage nach dem schrecklichen Zwischenfall gewann Nu Pagadi in München-Daglfing sein nächstes Rennen, überlegen, wie üblich. Es war das vierte Rennen des Abends. Krugs Therapeut sollte später sagen, irgendwo müsse der Ausdruck ja herkommen, ein reichlich unsensibler Mensch habe das Gemüt eines Pferdes.

Zweiter Tag
12. Mai
    Sankt-Anna-Platz München, 14 Uhr
    August Maler trug eine graue Cordhose, ein beiges Hemd und seine leichte beige Stoffjacke. Beige und grau, das waren seine Farben, egal, was er zum Anziehen kaufte, am Ende war es immer etwas Graues oder etwas Beiges. Seine Frau hatte ihm einmal ein rotes Hemd gekauft. Oft trug er es nicht.
    Sankt-Anna-Platz, Hausnummer 9, so lautete die Adresse von Gabriel Tretjak. Kommissar Maler leistete sich den Luxus, sich an diesem warmen Nachmittag ein paar Minuten auf die grüne Parkbank zu setzen, direkt vor der einen Kirche, der großen, und gegenüber der anderen Kirche, der
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