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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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entfernt liegenden hinteren Eck war das Restaurant inzwischen leer. Die ältere Dame, die dort saß, war in ein Buch vertieft. Aus der Küche drang das leise Geklapper, das am Ende eines langen Tages in allen Restaurantküchen der Welt entstand.
    Tretjak war zufrieden. Er musste diesem Mann in diesem Restaurant in Sri Lanka, der in Kürze wieder aus seinem Leben verschwinden würde, jetzt nur noch ganz deutlich die Regeln erklären. Er musste ihm nur noch klarmachen, dass es vorerst kein Gespräch mit seiner Frau geben würde. Dass seine Frau verreist war und nur er, Tretjak, wusste, wo sie war. Dass sie erst zurückkehren würde, wenn alles genauso arrangiert wäre, wie sie es sich wünschte. Eine Stunde noch, schätzte Tretjak, dann würde er draußen auf die Terrasse treten und dem Fahrer winken.
    In diesem Moment trat der Mann von der Hotelrezeption an ihren Tisch. Es war der Moment, den Tretjak später immer wieder rekapitulieren sollte. Er hatte den Mann schon aus den Augenwinkeln gesehen, wie er zügig das Foyer durchquerte, im Restaurant kurz stehen blieb und sich umsah, dann entschlossen auf sie zusteuerte. Rückblickend war sich Tretjak sogar sicher, dass er sogar schon gesehen hatte, wie der Mann hinter der Rezeption den Telefonhörer aufgelegt hatte, bevor er sich auf den Weg machte. Rückblickend wusste Tretjak genau, dass er ungehalten gewesen war wegen der – sicher unnötigen – Störung, die auf ihn zukam.
    »Herr Tretjak, da war ein Anruf für Sie«, sagte der Rezeptionist.
    Das menschliche Gehirn ist eine Entscheidungsmaschine. Ununterbrochen verarbeitet es riesige Mengen von Daten, um ständig, in buchstäblich jeder Sekunde, Entscheidungen zu fällen, blitzschnell, mit einem einzigen Zweck: das Überleben zu sichern.
    »Ein Anruf? Für mich? Sind Sie sicher?«
    »Kein Zweifel. Der Anrufer sagte, er habe eine wichtige Nachricht für Gabriel Tretjak. Seinen Namen hat er nicht genannt.« Er blickte auf einen Zettel. »
Sieger im vierten Rennen, Pferd Nummer 6, Nu Pagadi.
Das ist die Nachricht.«
    Schon beim Überqueren einer Straße vollführt das menschliche Gehirn eine wahre Meisterleistung. Es schätzt die Länge des Weges von einer Straßenseite zur anderen ab und die Zeit, die benötigt wird, ihn zurückzulegen, inklusive rauf und runter am Bordstein. Es schätzt die Entfernung und die Geschwindigkeit des Autos ab, das sich nähert, berechnet die Zeit, die es braucht, bis es die eigene Position erreicht hat, bezieht die Bodenbeschaffenheit in die Berechnungen mit ein, auch die zwei Radfahrer von rechts – und entscheidet dann: Gehen oder stehen bleiben? Wenn nur eine dieser Berechnungen falsch ist, ist das Leben des Menschen beendet, und sein Hirn breitet sich als klebrige Masse auf dem Asphalt aus.
    Im
New Oriental
in Sri Lanka entschied Gabriel Tretjaks Gehirn in diesem Moment, dass von diesem Anruf keine Gefahr ausging, dass es sich um einen Irrtum handeln musste. Niemand wusste, wo Tretjak sich zu diesem Zeitpunkt befand. Und er war noch nie in seinem Leben bei einem Pferderennen gewesen.
    »Danke«, sagte Tretjak also nur, wartete, bis der Rezeptionist sich zurückgezogen hatte, griff nach seinem Kugelschreiber und beugte sich nach vorn, um die Stille zwischen Schwarz und sich zu beenden.
    »Hören Sie mir jetzt genau zu, Herr Schwarz«, begann er. »Ich weiß, dass Sie vorhaben, übermorgen nach Mumbai weiterzufliegen. Sie wollen dort eine Kooperation Ihres Unternehmens mit dem indischen Chiphersteller Union Carry abschließen.« Tretjak machte eine kleine Pause. »Ich weiß auch, dass hinter der Sache eine Intrige aus Ihrem eigenen Vorstand heraus steckt. Die Kooperation wird nicht zustande kommen, und im Aufsichtsrat sind die Weichen bereits gestellt, dass Ihr Scheitern Sie den Job als Vorstandsvorsitzenden kosten wird.«
    Schwarz sah Tretjak über den Tisch hinweg ratlos an. Vor drei Stunden war sein Leben noch klar gewesen, überschaubar, ausgeleuchtet bis in den kleinsten Winkel, ein gutes Leben ohne größere Probleme am Horizont. Er hatte an diesem 11. Mai eine kleine Bootsfahrt unternommen, mit einem Führer natürlich, der ihn in einem Einbaum einen Fluss hoch ins Landesinnere gerudert hatte. Er war auf einer kleinen Insel voller Mangobäume spazieren gegangen, er hatte Alligatoren am Flussufer gesehen. Er hatte von dem Einbaum aus eine SMS an seine Tochter in London geschrieben, die ihm den Aufenthalt im
New Oriental
zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie hatte auf einer
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