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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
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Das kühle Innere des Turms war stockfinster. Erst, als der Graf oben eine weitere Tür öffnete, strömte graues Herbstlicht in die Schatten. Wir traten ins Freie.
    Sogleich umfingen uns wieder Regen und der Brandgeruch vom Marktplatz. Das Feuer mußte längst gelöscht sein, und auch der Rauch löste sich allmählich auf, trotzdem klebte der rußige Gestank an den Dächern wie verbrannter Zuckerguß. Ein durchdringender Wind pfiff um die Zinnen. Nach Norden hin sah ich die weit hingestreckte Bauwüste, die von hier aus noch gewaltiger wirkte. Sie nahm in der Tat weit mehr als die Hälfte der ummauerten Stadt ein. Auch Marktkirche und Rathaus waren zu erkennen. Neben ihnen ragte die Mysterienbühne aus dem Dunst wie das Gerippe eines Ungeheuers. Die Dächer des Urdorfes lagen verborgen hinter Schwaden.
    Nach Westen hin blickten wir direkt auf den Stiftsbezirk. Eine klotzige Kirche hockte in seiner Mitte, um sie herum standen die Häuser der Stiftsherren, allen voran die Anwesen des Vogts und seiner Lakaien. Auch das Händlerviertel mit seiner geschwungenen Marktstraße bot sich meinen Blicken dar wie eine lockende Hure, prahlend mit billigem Tand.
    Gleich vor uns, im Zentrum der Plattform, stand eine merkwürdige Konstruktion aus hölzernem Gestänge, von der sich rechts und links lederne Schwingen abspreizten. In der Mitte befand sich ein Sitz.
    »Gütiger Himmel«, entfuhr es mir in plötzlicher Erkenntnis, »Ihr wollt doch nicht etwa versuchen, damit zu fliegen?«
    »Warum nicht?« erwiderte der Graf fast trotzig.
    »Ihr seid der Statthalter des Herzogs«, entgegnete ich mit bebender Stimme. Bei Gott, wen mochte es wundern, daß niemand in die Dienste dieses Irren trat. »Euer Vorhaben ist das Tun eines Ketzers. Ist dies die Art und Weise, wie Ihr das Ansehen des Herzogs wahrt? Mit gottloser Blasphemie?«
    Da erschien brodelnder Zorn im Blick des Grafen.
    »Mein Junge, Ihr verkennt die Lage. Niemand hat hier in Hameln das Sagen, außer dem Vogt.« Dabei fuhr seine Hand in einem ungelenken Wink über den Stiftsbezirk.
    »Meine Anwesenheit ist ein schlechter Witz, über den keiner mehr lacht. Die Stadt ist für den Herzog längst verloren, nur weiß er es noch nicht. Außer mir, einem schwachsinnigen Henker und zwei, drei Getreuen gibt es niemanden in Hameln, der auch nur einen Gedanken an den edlen Herzog im fernen Braunschweig verschwendet. Das solltet Ihr wissen, bevor Ihr Euch daran macht, in dieser Stadt herumzuschnüffeln.«
    Ich erkannte, daß es keinen Sinn hatte, mit ihm zu streiten. Sein Geist war verwirrt, nichts würde ihn von seinem Irrsinn abhalten. So besann ich mich auf den eigentlichen Grund meines Kommens.
    »Was geschah mit den Kinder?« fragte ich und stemmte mich gegen den Regen. Der Wind riß mir die Worte von den Lippen. »In Braunschweig hört man Gerüchte über hundertdreißig Jungen und Mädchen, die vor drei Monaten spurlos aus Hameln verschwanden. Sagt Ihr mir, wohin!«
    Der Graf blinzelte mich einen Augenblick lang an, dann wandte er sich wortlos um und stieg hinab in den Turm. Ich folgte ihm aufgebracht. »Ihr müßt es mir sagen, nur deshalb bin ich hier.«
    Graf Schwalenberg durchschritt den Saal im ersten Stock, eilte hinab ins Erdgeschoß und erwartete mich mit steinernem Gesicht an der Haustür. »Geht!« sagte er, und es war viel mehr als eine Bitte. »Geht, und lauft in Euer Unglück. Oder reitet zurück zu Eurem Herrn und sagt ihm, Ihr hättet nichts erfahren können.«
    Ich bebte vor Entrüstung. »Er ist auch Euer Herr. Und seid versichert, daß er erfahren wird, wie Eure Antwort aussah.«
    Der Graf schnaubte gleichgültig. »Wie Ihr wollt, edler Ritter. Hameln hält mich längst gefangen, und wenn Ihr nicht eilt, wird es Euch bald ebenso ergehen.« Damit riß er die Tür auf und drängte mich ins Freie. »Reitet fort und fragt nicht mehr nach den Kindern. Vor allem aber kehrt niemals zu mir zurück. Ich werde Euch nicht einlassen.«
    Damit schlug er die Tür zu, und wieder stand ich im Regen. Doch diesmal spürte ich die Nässe nicht. Mein Körper loderte vor Hitze. Noch einmal fuhr mein Blick über die widernatürlichen Bildnisse auf der Vorderseite des Hauses, dann schritt ich erhobenen Hauptes zu meinem Pferd und stieg auf.
    Ein letztes Mal drehte ich mich um. »So handelt kein Ritter, Herr Graf. Hört Ihr? Ihr seid kein Ritter mehr!«
    Doch meine Wut wurde niedergedrückt vom Regendunkel, und jedes Wort verhallte ungehört.
      
      

    KAPITEL 2
    Das alte Dorf, jetzt
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