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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
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fester Bestandteil der ummauerten Stadt, glitt mir durch Schleier aus Halblicht entgegen, als ich entlang des Weserufers nach Norden ritt. Ein einsamer Kahn schien herrenlos über den fahlen Spiegel des Flusses zu treiben. Weiter südlich sah ich die mächtige Steinbrücke, die das Wasser überspannte und hinüber zu den buckligen Wäldern auf der anderen Seite führte. Genau auf Höhe der Stadt teilte sich der Fluß und umschloß ein schmales, langgestrecktes Eiland, öde und leer, wie der Kadaver eines Lindwurms, dessen aufgeblähter Rücken leblos auf den Wellen trieb. Zwischen Insel und Stadt hatten die Bürger Hamelns eine Reihe mächtiger Baumstämme in den Grund der Weser getrieben, um den Fluß aufzustauen und Boote aufzuhalten, die ohne Wegezoll vorüberfahren wollten. Nur durch einen schmalen Durchlaß am der Stadt zugewandten Ufer durften die Schiffer gegen ein Entgelt passieren. Hamelner Loch nannte man hier diese Enge, und als ich an ihr vorüberritt, blickten mir die schweigenden Tagelöhner finster hinterher.
    Die zusammengewürfelten Häuser des Dorfes hielten keinem Vergleich mit den Bauten der reichen Händler und Stadtoberen im Süden stand. Vielmehr drängten sie sich eng und gebeugt aneinander wie ein Haufen klagender Weiber. Jedes Dach, jede Wand, ja, selbst die Menschen schienen vom grauen Schmutz des Ödlands wie von Rauhreif überzogen. Kaum eines der Häuser hatte mehr als ein Stockwerk, alles war aus Holz gezimmert und hier und da mit Lehm verputzt. Die meisten Fenster hatte man mit Häuten bespannt, die übrigen durch hölzerne Läden verschlossen; auch das Glas war den Reichen vorbehalten. Die Gassen waren so schmal, daß kaum drei Menschen nebeneinander gehen konnten, ohne mit den Schultern zusammenzustoßen. Die fetten schwarzen Ratten beherrschten die Schatten und wieselten dreist zwischen den Hufen des Pferdes einher.
    Männer und Frauen, die ich traf, beäugten mich voller Mißtrauen. Trotz der Nässe und des Schlamms, der über mich und das Pferd gespritzt war, sah man mir an, daß ich nicht in diesen Pfuhl aus Armut und Elend gehörte. Dabei war dies doch meine Heimat, wenngleich ich die Wege breiter, die Häuser viel höher und die Menschen freundlicher in Erinnerung hatte. Alles schien mir merkwürdig fremd, als kehrte ich nicht zurück an den Ort meiner Kindheit, sondern ritte vielmehr durch eine ferne, feindselige Gegend, für die ich nichts als Verachtung spürte.
    Ich war nicht sicher, was ich eigentlich in diesem Teil Hamelns suchte. Ebensogut hätte ich mit meinen Nachforschungen über das Schicksal der Kinder im reichen Süden beginnen mögen, und doch trieb mich ein unbestimmtes Gefühl hierher. Hier drängten sich die meisten Bewohner der Stadt auf engem Raum; zweifellos war ein Großteil der verschwundenen Kinder unter diesen armseligen Dächern geboren. Nirgends war einer zu sehen, der weniger als fünfzehn, sechzehn Lenze zählte, was mich in meinem Entschluß bestätigte – wenngleich die stumme Ablehnung in den verhärmten Gesichtern wenig Bereitschaft zeigte, mit mir über das Geschehene zu sprechen.
    Ich stieg vom Pferd und führte das Tier an den Zügeln. Sogleich sanken meine Füße in den schlammigen Boden, doch schien mir mein Sitz auf dem Rücken des Rappen zu stolz und überheblich inmitten solch karger Bedürftigkeit. Eine Weile lang erwog ich, das Haus meiner Kindheit zu suchen, doch dann entschied ich mich fürs erste dagegen. Meine Familie war nicht mehr, nichts zog mich zurück zu meinen Wurzeln.
    Vor einem der wenigen Häuser, welche die übrigen durch ein zweites Stockwerk überragten, machte ich halt. Ein hölzernes Schild wies es als Herberge aus, und obgleich es im Süden zweifellos ein einladenderes Gasthaus geben mochte, beschloß ich, hier um Aufnahme für die Nacht zu bitten.
    Ein buckliger Knecht führte mein Pferd in einen Stall an der Rückseite. Die Fensterläden waren bis auf schmale Spalten geschlossen, auch dieses Haus starrte von außen vor Schmutz. Wie erstaunt war ich allerdings, als ich den Schankraum in unverhofft reinlichem Zustand vorfand. Bis auf den Boden, der durch zahllose Fußtritte schlammverkrustet war, glänzte alles vor polierter Sauberkeit. An langen Tischen standen Bänke, die um diese Tageszeit allesamt leer waren. Eine hölzerne Treppe führte hinauf ins Obergeschoß.
    Aus einer Tür, hinter der wohl die Küche lag, trat ein junges Mädchen, siebzehn vielleicht, kaum älter. Es trug ein Kleid aus grobgewebtem Stoff
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