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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber
Autoren: Kai Meyer
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Tafel stand. Auch hier loderte ein warmes Kaminfeuer. Zur Einrichtung gehörten einige Felle und eine ganze Reihe mächtiger Truhen. Das einstmals blank polierte Holz wie auch die eisernen Beschläge waren durch fehlende Pflege matt geworden. Auf Stühlen vor dem Feuer nahmen wir Platz.
    Das Haupt des Grafen war lang und schmal, die feingeschnittene Nase unzweifelhaftes Zeichen seines Adels. Der weißgelbe Haarschopf wuchs in ungezähmter Dichte, trotz seines ehrwürdigen Alters; die leuchtende Wirrnis gab ihm die Aura eines stolzen Gelehrten. Doch wer in seine Augen blickte, der erkannte den Betrug seines Äußeren: Schwalenbergs Blick war trüb und gebrochen, jeder Funke seines früheren Stolzes längst gewichen. Der Graf hatte mehrere Jahrzehnte in Hameln verbracht, und ich erschrak bei der Erkenntnis, daß der Widerstreit mit den Getreuen des Bischofs ihn seiner Lebensglut beraubt hatte. Er war nicht ohne Würde, keineswegs, und was ihm auf dem Turm an Höflichkeit gemangelt, machte er nun durch Gastfreundschaft wett. Trotzdem blieb der Eindruck, daß ich hier nur mit dem Schatten seines einstigen Selbst am Feuer saß.
    »Ihr tragt eine Tonsur«, sagte er tonlos und deutete auf meinen Hinterkopf.
    »In der Tat erhielt ich die erste Weihe«, erklärte ich. »Doch seid versichert, ich bin dem Herzog treu ergeben und stehe in diesem Zwist mit ganzem Herzen auf Eurer Seite.«
    Er nickte bedächtig, als habe er nichts anderes erwartet. »Zu meiner Zeit trugen wir Ritter glänzende Rüstungen und die Trophäen besiegter Feinde, keine Abzeichen elender Pfaffen.«
    »Wollt Ihr mich beleidigen?« fuhr ich auf und sprang empört vom Stuhl.
    Er kicherte und hielt mich mit einer Geste zurück. Sogleich bedauerte ich mein ungestümes Wesen. Was hatte ich tun wollen? Ihn zum Kampf fordern? Einen alten Mann wie ihn?
    »Verzeiht«, bat ich und setzte mich wieder.
    »In meiner Jugend war ich ebenso wie Ihr, Robert von Thalstein. Aufbrausend, stets bereit, meine Kraft mit dem Schwert zu messen. Doch das ist lange her. Die Zeit der hohen Ritterschule ist längst vorbei. Wir kämpften einst um die Gunst der Damen, um Ehre und Ansehen, um die Liebe unseres Königs. Doch was ist davon geblieben? Sagt, wie wurdet Ihr in Hameln empfangen?«
    Ich zögerte, ihm die Wahrheit zu sagen, besann mich aber dann eines Besseren. »Ein Knecht des Bischofs erdreistete sich, mich zu maßregeln.«
    »Und, habt Ihr ihn erschlagen?«
    »Das war nicht nötig. Sicher hätte ich ihn –«
    Wieder unterbrach er mich. »Ja, ganz sicher. Ihr tatet es aber nicht. Glaubt mir, zu meiner Zeit wäre der Kopf des Narren gefallen wie das Laub im Herbst, noch ehe er begriffe, was mit ihm geschähe. Doch Ihr jungen Recken denkt, bevor Ihr handelt, und das ist recht so. Viel Leid bleibt dem Volk dadurch erspart. Doch mit der Unberechenbarkeit und Willkür der ritterlichen Macht ist auch ihr Ansehen geschwunden. Hinter vorgehaltener Hand spottet das Volk über Euch, im geheimen treibt es Späße auf Eure Kosten – und auf die meinen, natürlich. Doch Ihr seid nicht gekommen, um einen alten Mann über Vergangenes faseln zu hören.«
    Seine Offenheit hatte mich überrascht, und nun tat es wiederum die Abruptheit, mit der er den Gegenstand seiner Rede wechselte. Ich räusperte mich und griff unter mein Wams. Aus dem Futter zog ich das Schreiben hervor, das man mir für den Graf gegeben hatte. Es trug das Siegel des Herzogs und sollte ihn von Anstand und Ehre meines Trachtens überzeugen.
    Er zerbrach das Siegel und las den Brief langsam, schweigend und sehr genau. Seine Miene änderte sich nicht, sie blieb beinahe ausdruckslos; nur ein schwaches Flimmern wie von Erstaunen oder auch Ablehnung spielte um seine Augen.
    Schließlich lehnte er sich zurück, steckte den Brief ein und musterte mich mit verblüffender Schärfe. »Ihr wollt also wissen, was mit den Kindern geschah.«
    »So ist es.«
    »Ich glaube nicht, daß ich Euch dabei helfen kann.«
    »Ihr verwirrt mich«, sagte ich erstaunt, nur um gleich hinzuzufügen: »Es ist der ausdrückliche Wunsch des Herzogs, daß Ihr mich bei der Wahrheitsfindung unterstützt.«
    Der Graf erhob sich von seinem Stuhl. »Folgt mir.«
    Ich fürchtete, er wolle mich hinauswerfen, doch statt dessen trat er vor eine niedrige Holztür an der Südseite des Saales und öffnete sie. Dahinter waren in der Dunkelheit Stufen zu erkennen. Der Turm, dachte ich.
    Ich ging hinter ihm her, während er schweigend die schmale Wendeltreppe hinaufstieg.
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