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Der Rabbi schoss am Donnerstag

Der Rabbi schoss am Donnerstag

Titel: Der Rabbi schoss am Donnerstag
Autoren: Harry Kemelman
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Cunningham ärgerte, der für ein paar überflüssige Verkehrsampeln stimmen will … Was meinst du, wie der darauf reagieren würde?»
    Das runzlige Gesicht mit dem dürren Hals im Spiegel lächelte ihm zu. Dann, als er daran dachte, was so eine Reise alles mit sich brachte, verengten sich die blassblauen Augen. Er würde einen Anzug anziehen müssen – mit Krawatte! Und Schuhe. Er würde einen Koffer packen und zum Flughafen hinausfahren müssen, es sei denn, Billy konnte sich den Vormittag in der Bank freinehmen. Aber dann musste er dafür sorgen, dass er bei seiner Rückkehr wieder abgeholt wurde. Und was sollte er in New York anfangen, nachdem er bei diesem Mann gewesen war – wie hieß er noch gleich? Leicester? Ja, was würde er anfangen, nachdem er Mr. Leicester seinen Besuch abgestattet hatte?
    Das Übliche kam nicht in Frage, denn Hester war gerade in Europa. Er würde also im Hotelzimmer sitzen und fernsehen müssen. Verdammt, fernsehen konnte er auch zu Hause. Außerdem war Leicester vielleicht gar nicht zu Hause. «Es lohnt sich nicht», verkündete er laut, setzte sich wieder in den Lehnsessel und langte nach der Zeitung. «Vielleicht rede ich einfach mit Cunningham», sagte er.
     
    Seit einigen Jahren flog Ellsworth Jordon nicht mehr allzu häufig nach New York, doch wenn er es tat, versuchte er es so einzurichten, dass er einige Zeit mit Hester Grimes verbringen konnte, die er in den fünfziger Jahren kennen gelernt hatte, als sie zweiundzwanzig war und an der Actors’ School studierte. Damals arbeitete er bei dem bekannten Architektenbüro Sloan, Cavendish and Sullivan und war, obwohl nahezu vierzig, noch immer nicht in leitender Stellung. In jenen Tagen hieß sie noch Esther Green, war schlank, mit pechschwarzem Haar und großen, dunklen Augen, intensiv, ernsthaft und entschlossen, eines Tages die großen dramatischen Frauenrollen zu spielen – die Nora, die Lady Macbeth, die Jungfrau von Orléans.
    Er selbst war hoch gewachsen, blond und gut aussehend, obwohl sein Haar bereits schütter wurde und er das für Männer mittleren Alters typische Gewicht angesetzt hatte. Er behandelte sie mit einer ausgesuchten Ritterlichkeit, die sie um so attraktiver fand, als sie in den Bohème-Kreisen, in denen sie verkehrte, so etwas ganz und gar nicht gewöhnt war.
    Trotz des großen Altersunterschiedes waren sie sehr verliebt gewesen. Die sechs Monate, die ihre Affäre dauerte, waren hektisch gewesen, mit häufigen, heftigen Auseinandersetzungen, gefolgt von tränenreichen Versöhnungen. Dann kam seine große Chance. Man wollte ihn nach Berlin schicken, an ein großes Bauprojekt, das mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde. Er wollte, dass sie ihn begleitete.
    Sie erhob Einwände. Sie müsse an ihre eigene Karriere denken. Und außerdem war ihr die Vorstellung, in Deutschland zu leben, einfach widerwärtig, obwohl sie nicht religiös und mit der jüdischen Gemeinde lediglich durch den Zufall ihrer Geburt verbunden war. Die Diskussion steigerte sich rasch zum Wortwechsel und dann, wie so oft, zum ausgewachsenen Krach. Verärgert über ihre Weigerung, ließ er sich hinreißen, ihre Ambitionen lächerlich zu machen und dann sogar die Schauspielerei selbst als ernsthafte Kunst in Zweifel zu ziehen. «Ich gebe zwar zu, dass sie eine legitime Art des Brotverdienens sein mag», erklärte er von oben herab, «im Grunde aber ist es doch nur ein kindisches Bedürfnis, sich selbst zur Schau zu stellen.» Und was ihre Weigerung angehe, in Deutschland zu leben, so sei er der Ansicht, es beweise, dass sie noch immer an der Paranoia ihrer Rasse leide und dass sie noch immer mit einer ethnischen Engstirnigkeit behaftet sei.
    Es endete, wie so viele ihrer Auseinandersetzungen, damit, dass beide einsahen, sie passten nicht zueinander, und dass er, ebenfalls wie immer, davonging – angeblich, um nie wiederzukommen. Kurz nachdem er ins Ausland gegangen war, entdeckte sie, dass sie schwanger war.
    Wäre er noch in New York gewesen, hätte sie es ganz zweifellos so eingerichtet, dass er davon erfuhr, auch wenn sie selbst ihn nicht angerufen hätte. Und dann wäre er natürlich gekommen, und dann hätte es natürlich eine Versöhnung gegeben, und dann … Aber er war nicht in New York; er war dreitausend Meilen entfernt. Hätte sie eine Familie gehabt oder wären ihre Freunde und Bekannten Angehörige der Mittelklasse gewesen, in der sie aufgewachsen war, hätte sie vermutlich eine Abtreibung machen lassen, obwohl das bedeutete,
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