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Der Puppendoktor

Der Puppendoktor

Titel: Der Puppendoktor
Autoren: Brigitte Aubert
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Glück, dass Wind aufgekommen war, dachte Marcel und schlich gebeugt, Schritt für Schritt, voran. Bei dem Lärm, den er macht, kann Paulo uns nicht hören. Jean-Jean war hinter einer Mauerecke verschwunden. Marcel kam an einem halb verkohlten Briefkasten vorbei, auf dem noch La Palom . .. zu erkennen war. Die nächsten Häuser waren mindestens fünfhundert Meter entfernt. Ein Blitz erleuchtete für Sekunden die Bucht weiter unten. Marcel war schweißgebadet, als käme er eben aus der Sauna. Er war sicher, dass Paulo irgendwo in der Ruine war. Mit Momo. Momo als Faustpfand für seine Freiheit. Wie lange aber würde sein Verstand noch logisch funktionieren? Das Monster in ihm konnte jeden Moment die Oberhand gewinnen, und Momo wäre verloren.
    Wieder ein greller Blitz. Jean-Jean blieb stehen. Er fürchtete, seine Gestalt könnte sich gegen das Licht abheben. Die Schwüle wurde immer drückender. Der Wind wirbelte trockenen, brennenden Staub auf. Südwind, dachte Jean-Jean, Südwind trägt Sand mit sich. Ein schwerer Tropfen zerplatzte auf seinem nackten Arm. Er wünschte sich sehnlichst Sturzbäche von Regen herbei, eine Sintflut, damit er unbemerkt in die Ruine eindringen könnte.
    Ein schwerer Tropfen zerplatzte auf dem Gesicht des kleinen Mannes, lief seine Wange hinunter bis zu seinem verzerrten Mund. Er blinzelte verwirrt.
    Es wird regnen, dachte Momo irgendwie erleichtert, es wird ein kräftiges Gewitter geben. Er liebte Gewitter. Dem Gewitter lauschen, im warmen Bett an seine Maman gekuschelt. Maman. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er schluchzte auf. Der kleine Mann beugte sich zu ihm herab, presste den Mund an sein Ohr.
    »Hörst du sie, hörst du sie, die klebrigen Würmer, die kriechenden Würmer, sie kommen näher, du wirst sehen, sie werden deine Beine hochkriechen, sich an deine Lippen kleben, in ganzen Scharen in deinen Mund dringen, pst, sei ruhig, sonst verschlingen sie dich. Riechst du nicht, wie es stinkt? Siehst du nicht, wie dunkel es ist? Das Blut läuft über unsere Köpfe, spürst du, wie es läuft?«
    Momo blinzelte, halb erwürgt von der kräftigen Hand.
    Vergebens strampelte er mit den Beinen, um sich zu befreien. Dann, mit einem Schlag, entlud sich das Gewitter, und der Himmel öffnete seine Schleusen.
    Endlich! Marcel rannte los, die Windböen peitschten ihm den Regen ins Gesicht. Er bog um eine Ecke der Umfriedungsmauer. Blieb stehen. Von der Ruine waren noch etwa ein Meter hohe Mauern übrig, die eine Art Labyrinth bildeten. Hinter jeder von ihnen konnte sich der Tod verbergen.
    Im Schutz eines Steinmäuerchens kauernd, versuchte Marcel, sich in dem dichten Regen zu orientieren. Ein Geräusch zu seiner Rechten. Er fuhr herum, bereit zu schießen. Die gebeugte Gestalt von Jean-Jean zeichnete sich gegen den Lichtschein eines Blitzes ab, kam näher, den Zeigefinger auf den Lippen.
    »Wir müssen das Haus in die Zange nehmen«, flüsterte er. »Ich von links. Sie von rechts. Costello wird über Megafon zu ihm sprechen. Fertig?«
    »Fertig.«
    »Also los!«
    Mit einem geschmeidigen Satz landete Jean-Jean im hohen Gras und lief geduckt unter den Bäumen vorwärts. Marcel folgte seinem Beispiel. Der Boden verwandelte sich bald in schwammigen Morast. Er hatte den Eindruck, in einem Kriegsfilm mitzuspielen. Er stellte sich einen Augenblick vor, die Luftwaffe würde eingreifen, während die Scheinwerfer der Flugabwehr den Himmel erleuchteten. Doch es waren nur Blitze und der lauwarme prasselnde Regen.
    Plötzlich ertönte Costellos Stimme, getragen vom Wind, verzerrt vom Megafon, lächerlich menschlich in den entfesselten Elementen.
    »Contadini, lass das Kind los und komm mit erhobenen Händen raus. Du bist umzingelt. Mach keinen Blödsinn.«
    Der kleine Mann zuckte zusammen, als wäre er gebissen worden. Zorn verhärtete seine Züge, gab ihm das Gefühl, Marmor würde unter seine Haut dringen. Ein Speichelfaden lief von seinem allzu roten Mund herunter. Er hob das Rasiermesser. Momo schloss die Augen.
    Der Regen rann über das Gesicht des kleinen Mannes, und er konnte nichts mehr sehen.
    Er durfte sie nicht so nahe herankommen lassen, dass sie ihn abknallen konnten. Aber er hatte einen Vorteil; er kannte das Terrain wie seine Westentasche.
    Hier, genau hier, wo ich stehe, war der große Salon. Hinter mir, der Kamin, der große Fernseher rechts neben dem grünen Skaisofa. In den Salon gelangte man über einen breiten Flur, von dem zu beiden Seiten die Schlafzimmer abgingen. Rechts neben dem
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