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Der Preis des Lebens

Der Preis des Lebens

Titel: Der Preis des Lebens
Autoren: Christian Endres
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Hoffnungen so weit zu nähren, als dass er zum ersten Mal wirklich an das glaubte, was er in dieser Nacht zu tun gedachte.
Dennoch fauchte er ungeduldig: »Fangt endlich an!« Nugals Miene war unergründlich, als er Visco die weiße Kerze aus der Hand nahm, nach einem kunstvoll geschmiedeten Opferdolch griff und die Waffe nachdenklich in der Hand wog.
Der Zauberer verbarg seine wahren Gefühle und Gedanken gut.
Denn auch wenn Visco DeRául einen gewissen Vorteil gegenüber anderen besaß, die vor ihm auf dieser Pritsche gelegen hatten – ein Dolch aus reinem Sichelmondsilber in seinem langsam schlagenden Vampirherzen würde auch ihn umbringen. Nugal wusste das mit Bestimmtheit. Wieso zögerte er also und ließ sich diese Demütigung gefallen, anstatt dem elenden Vampir den Dolch bis zum Heft in die Brust zu rammen? Wegen der Schuld, die er gegenüber DeRául nach all den Jahren immer noch zu begleichen hatte?
Vielleicht. Doch Nugal machte sich nichts vor. Er kannte die wahre Antwort: Neugierde. Der Gelehrte in ihm wollte wissen, ob die alten Texte die Wahrheit sprachen.
Zum wiederholten Male rekapitulierte Nugal die Satzgebilde, die das komplizierte Ritual einleiten sollten. Nugal hatte den abgewetzten und an einigen Stellen sogar eingerissenen und von Feuer geschwärzten Folianten in den letzten Tagen so intensiv studiert, dass er ihn im Grunde so gut wie auswendig kannte. Aber er fühlte sich einfach wohler, wenn er die Zeit bis zum Beginn des Rituals überbrücken konnte.
Nugal trat hinter den schräg gestellten Arbeitstisch, auf dem der vergilbte Foliant lag. Einige der halb verblassten, von einer krakeligen Handschrift aufs Papier gebannten Worte waren auch bei guten Lichtverhältnissen nur noch mit Mühe lesbar oder einfach so alt, dass ihre Bedeutung sich selbst Nugals geschultem Intellekt entzog – was nichts daran änderte, dass das Schriftstück eine unermessliche Kostbarkeit darstellte. Nugal würde in naher Zukunft selbst in die Berge reisen, um dort nach ähnlichen Schätzen zu suchen. DeRául hatte ihm beiläufig erzählt, dass es in den Ruinen des alten Magierkollegs einige unterirdische Bibliotheken mit verhältnismäßig schwachen Siegeln gab, in denen noch viele Schriftstücke dieser Art zu finden waren – Schätze, die dieser Tor allesamt hatte links liegen lassen, als er das lang verschollene Kolleg in den Bergen aufgestöbert und mit einer zum Himmel stinkenden Engstirnigkeit nach einem ganz bestimmten Text durchsucht hatte.
Nugal schüttelte traurig den Kopf und betrachtete den Folianten auf dem Tisch mit einem verträumten Gesichtsausdruck.
So alt , überlegte der Magier und strich ehrfürchtig, ja beinahe zärtlich über die braune Oberfläche. Gleichzeitig dachte er aber auch daran, wie lächerlich kurz diese Zeitspanne einem von Visco DeRáuls Art erscheinen musste.
Einem, dem die Unsterblichkeit zur Verfügung stand.
Dieser Gedanke weckte starke Gefühle in Nugal. Neid, Abscheu und Hass, aber auch Anerkennung und so etwas wie Respekt. Der alte Magier wusste nicht, ob er selbst bereit wäre, ein ähnliches Opfer zu erbringen, wie der blasse Mann vor ihm auf der Pritsche es vor langer, langer Zeit getan hatte, um von dieser bittersüßen Frucht zu kosten.
Natürlich hatte Nugal mit dem Gedanken gespielt, DeRául darum zu bitten, ihn kurz vor knapp zu seinesgleichen zu machen. Schließlich wurde Nugal nicht jünger, auch wenn ihm schon jetzt mehr Lebensjahre beschieden waren als den meisten anderen Menschen. Hinterher hätte er DeRául immer noch bei der Durchführung des Rituals helfen können, wenn der Vampir darauf bestanden hätte. Doch Nugal hatte schlicht und ergreifend der Mut gefehlt, die Frage in den Raum zu stellen. Für das gemeine Volk, königliche Steuereintreiber und übereifrige Nachtjäger war er gerne Nugal der Heiler . Für manche hingegen war er auch Nugal der Zauberer oder, erheblich seltener, Nugal vom Orden des Blauen Falken . Nugal der Vampirmagier hingegen, fand er, klang in jederlei Hinsicht nach Männern mit spitzen Mistgabeln, lodernden Fackeln und einer Menge, Menge Schwierigkeiten mit den Jagam.
Nugal schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war es das Beste, DeRául so schnell wie möglich loszuwerden, um sich danach ganz auf die Vorbereitung seiner Expedition zu konzentrieren.
»Ich werde jetzt beginnen«, intonierte Nugal daher schlicht, nachdem er die kleine Kerze auf einen Hocker neben der Pritsche gestellt hatte, und wandte sich mit dem Dolch in der Hand
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