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Der Preis des Lebens

Der Preis des Lebens

Titel: Der Preis des Lebens
Autoren: Christian Endres
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antrieb und zu den gierigen Blutsaugern machte, als die man sie gemeinhin fürchtete und ächtete.
Andere von Viscos Art begangen daher den Fehler, irgendwann unbesonnen jedes Leben zu rauben und wahllos zu töten. Sie mordeten nicht selten wie ein tollwütiges Raubtier im Blutrausch – und bezahlten ihre Gier in der Regel bereits nach wenigen Jahren mit just jenem Wahnsinn zwischen Schuld und Sühne, von dem auch Visco nun zu kosten glaubte.
Und in dessen vollen Genuss er keinesfalls zu kommen gedachte.
Ein Windstoß strich flüsternd über die Wiese und ließ die Leuchtkäfer ihren Tanz unterbrechen und in kleinen Grüppchen in alle Richtungen davon wirbeln. Wenige Augenblicke später sammelten sie sich jedoch schon wieder und begannen erneut mit ihrem Schwebetanz. Erst eine Handvoll, dann ein Dutzend, bis die Luft über dem Abhang schließlich wieder von ihren wogenden leuchtenden Leibern erfüllt war. Wie kleine Brüder der Sterne sprangen sie unter ihren weit entfernten Geschwistern umher.
Gedankenverloren beobachtete Visco den hypnotisierend gleichmäßigen Reigen der Glühwürmchen, die sich von keinem der Windstöße entmutigen ließen und immer wieder von Neuem zu tanzen begannen. Dabei kam ihm der Gedanke, dass auch er in den letzten Jahren in gewisser Weise viel getanzt hatte.
Er konnte keineswegs sagen, all diese Jahre im Dunstkreis seiner schalen Unsterblichkeit nicht genossen zu haben. Jede einzelne Nacht, jedes einzelne Vergnügen, jede einzelne Frau, jede einzelne Sünde – er hatte sie alle genossen und keine einzige davon bereut. Ein kleiner, finsterer Teil seines Ichs flüsterte ihm sogar zu, dass er auch sein letztes Opfer nicht zu bereuen brauchte ...
Visco versuchte, diese Stimme aus seinem Denken zu verbannen, und inspizierte seine Arme und Hände. Zufrieden stellte er fest, dass sich über dem wunden Fleisch mittlerweile neue Haut gebildet hatte. Wie üblich würde sein Körper von der letzten Nacht keine sichtbaren Narben behalten.
Welche Narben sein Verstand davon getragen hatte, stand hingegen auf einem ganz anderen Blatt.
Visco erhob sich umständlich, klopfte seine Beinkleider ab und sah in Richtung des Baches, der irgendwo weiter im Nordwesten leise murmelnd zwischen den Baumreihen im Dunkeln verschwand. Der Nachtwind bauschte seinen Umhang hinter ihm auf und gab dem Vampir eine unwirkliche Aura aus greifbarer Finsternis. In diesem Moment war Visco DeRául nicht mehr als eine einsame Gestalt, die in mehrerlei Hinsicht auf einem schmalen Grat wandelte und auf das Dunkel hinab blickte, das zu beiden Seiten des Weges lauerte.
Als die Glühwürmchen sich nach einem weiteren Windstoß einmal mehr formierten, nahm Viscos hageres Gesicht einen entschlossenen Ausdruck an. Wenn diese kleinen Tierchen sich nicht unterkriegen ließen, dann würde er das auch nicht! Er würde sich nicht ergeben und enden wie so viele andere seiner Art – als blutgieriges Ungeheuer, das sogar Tieren das Leben nahm, um den mit Einbruch der Nacht aufkommenden Hunger zu befriedigen. Vielleicht war es noch nicht zu spät, um seinen Verstand vor der vollständigen Zerstörung durch seine Schuldgefühle zu bewahren und dem Teufelskreis ewigen Lebens, ewiger Gier, ewiger Schuld und ewigen Wahnsinns zu entkommen.
Er hatte gegen die Regeln verstoßen, ja, schön und gut. Aber sollte er deshalb alles aufgeben? Genügte es nicht, dem Spiel eine neue Note zu geben, eine neue Perspektive?
Visco wusste, dass es nur einen Ort gab, der ihm die Antwort sowie die passende Perspektive bringen konnte.
»Tuchosa ...«, murmelte er und schritt mit wehendem Umhang den Hang hinab, mit festen Schritten der vor ihm liegenden Dunkelheit entgegen.
Die Glühwürmchen flohen vor ihm.
*
    »Seid Ihr bereit?«
Die rauchige Stimme des Zauberers riss Visco aus seinen Erinnerungen und katapultierte ihn zurück ins Hier und Jetzt.
Er öffnete die Augen und nickte.
»Gut.« Nugal erwiderte die Geste zögerlich. Mit einem Stirnrunzeln fragte er dann: »Und Ihr seid wirklich sicher, dass ...?«
»Spart Euch die Warnungen, Zauberer!« Visco streckte sich auf der harten Holzpritsche aus. Trotz des schummrigen Lichts in der Werkstatt konnte er erkennen, dass der Magier mit dem kurzen grauen Haar vor ihm zurückwich. Anscheinend hatte er drohender geklungen als beabsichtigt. Seltsamerweise erheiterte Visco die Furcht des ältlichen Mannes, obwohl er Nugal eigentlich zu großem Dank verpflichtet war. Immerhin hatte dieser viel dazu beigetragen, Viscos
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