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Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)

Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)

Titel: Der Preis der Ungleichheit: Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht (German Edition)
Autoren: Joseph Stiglitz
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Die Frage lautet daher: Inwieweit würden die Anreize geschwächt, wenn wir ein etwas geringeres Niveau an Ungleichheit hätten? Im nächsten Kapitel werde ich darlegen, warum ein Rückgang der Ungleichheit die Produktivität sogar steigert.
    Auf einen Großteil dessen, was Leistungslohn beziehungsweise leistungsbezogene Vergütung genannt wird, trifft gerade das nicht zu. Mit dieser Bezeichnung sollten lediglich die enormen Disparitäten gerechtfertigt und Unbedarfte in dem Irrglauben gewiegt werden, dass unser Wirtschaftssystem ohne diesen hohen Grad an Ungleichheit nicht funktionieren würde. Dies zeigte sich, als die Banken im Anschluss an das Finanzdebakel von 2008 aus lauter Verlegenheit die Vergütungen ihrer Manager nicht länger »Leistungsboni« nannten, sondern auf einmal von »Personalerhaltungsboni« oder »Treueprämien« sprachen (auch wenn das Einzige, was erhalten wurde, die schlechte Leistung war).
    Im Rahmen von Leistungslohnsystemen soll die Entlohnung mit der erbrachten Leistung steigen. Aber nicht nur die Banken machten Folgendes: Wenn gemäß den Kriterien, die herangezogen wurden, um die Höhe der Vergütung festzulegen, die gemessene Leistung zurückging, wurde einfach das Vergütungssystem geändert. Dies führte in der Praxis dazu, dass die Vergütung hoch war, wenn die Leistung stimmte, aber auch dann, wenn dies ganz und gar nicht der Fall war. 79

Zur Analyse der Ursachen von Ungleichheit
    Ökonomen streiten sich gern darüber, in welchem Verhältnis einzelne Faktoren zu der wachsenden Ungleichheit in Amerika führten. Das zunehmende Auseinanderklaffen von Löhnen und Kapitaleinkommen und die Tatsache, dass ein wachsender Prozentsatz der Einkünfte auf jene Formen entfällt, die besonders ungleich verteilt sind, trugen dazu bei, dass das Markteinkommen immer weiter auseinanderdriftet. Ein Rückgang der Steuerprogression und Ausgabenkürzungen sind für eine noch stärkere Zunahme des Transfereinkommens nach Steuern mitverantwortlich.
    Die Erklärung für die Zunahme der Streuung von Löhnen und Gehältern ist besonders umstritten. Einige konzentrieren sich auf den technischen Wandel und die damit verbundene Begünstigung von Hochqualifizierten. Andere legen das Augenmerk auf gesellschaftliche Faktoren: die Schwächung der Gewerkschaften oder die schwindende Geltungskraft sozialer Normen, die der Vergütung von Führungskräften Schranken setzten. Wieder andere rücken die Globalisierung in den Mittelpunkt. Einige betonen die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte. Hinter jedem Erklärungsansatz stehen mächtige Gruppeninteressen: Wer darum kämpft, Märkte zu öffnen, schreibt der Globalisierung nur eine unwesentliche Rolle zu; wer sich für eine Stärkung der Gewerkschaften einsetzt, sieht in deren Schwächung den zentralen Faktor. Dann wieder prägen die unterschiedlichen Aspekte der Ungleichheit die jeweiligen Debatten: Die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte hat vielleicht wenig mit der Polarisierung der Löhne in der Mittelschicht zu tun, dafür aber eine Menge mit der Zunahme von Einkommen und Vermögen an der Spitze. Außerdem variiert die Bedeutung der verschiedenen Faktoren je nach Zeitpunkt: Die Globalisierung hat seit dem Jahr 2000 vermutlich eine wichtigere Rolle gespielt als in dem vorhergehenden Jahrzehnt. Dennoch besteht unter Ökonomen zunehmend Einigkeit, dass sich die Wirkungen der einzelnen Kräfte kaum fein säuberlich auseinanderhalten und zergliedern lassen. Wir können keine kontrollierten Experimente durchführen, um herauszufinden, wie sich die Ungleichheit entwickelt hätte, wenn wir, unter ansonsten gleichen Bedingungen, stärkere Gewerkschaften gehabt hätten. Außerdem wechselwirken die Kräfte miteinander: Die Wettbewerbsorientierung
der Globalisierung – die Drohung, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern – hat entscheidend zur Schwächung der Gewerkschaften beigetragen. 80
    Aus meiner Sicht geht die Debatte häufig am Wesentlichen vorbei: dass die Ungleichheit in Amerika (und einigen anderen Ländern) so stark zugenommen hat, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Der technische Fortschritt (der Hochqualifizierte begünstigt) mag für gewisse Aspekte unseres gegenwärtigen Ungleichheitsproblems, insbesondere was die Polarisierung am Arbeitsmarkt angeht, von zentraler Bedeutung sein. Aber selbst wenn dem so ist, müssen wir nicht tatenlos zusehen und uns mit den Konsequenzen abfinden. Habgier mag der menschlichen Natur innewohnen, doch das heißt
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